Alpencross 2012 - Tag 1
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Immenstadt - Füssen - Alpsee - Weißenbach - Rotlechtal - Sinnesjoch
Länge: 50 km
Steigung: 1760 Hm
Auch 2012 hatte der Juli wieder alles gegeben – allerdings nicht für uns Mountainbiker. Statt Trails zu surfen, hätte man eher das Kraulen perfektionieren können. Ein bockiges Tiefdruckgebiet hatte sich über Großbritannien festgefressen wie ein alter Kaugummi unter der Schultischplatte – und schleuste von dort stoisch Regenfront um Regenfront nach Mitteleuropa. Vielleicht wollte es auf seine eigene feuchte Weise zum Drama der Eurokrise beitragen. Anfangs war’s immerhin noch halbwegs mild. Doch Mitte Juli wurde es endgültig ungemütlich – eine saftige Kaltfront brachte maximal ungemütliches Wetter.
Die Ausrüstung war startklar – und natürlich wieder leicht optimiert, man kennt das ja. Neuer Rucksack: Ortlieb MountainX 31 – groß, robust, wasserdicht. Neuer Schlafsack mit polnischer Gänsedaune – kuschelig und doch abenteuerkompatibel. Und statt Biwaksack nun ein selbstgenähtes Tarp: Minimalismus trifft Ingenieurskunst. Ich war gespannt, wie sich das Ding im Dauerregen schlagen würde. Außerdem wurde meine mangelhafte Yogamatte gegen eine vernünftige selbstaufblasende Therm-a-Rest Isomatte augetauscht. Eine neue GoPro Hero 2 ergänzte außerdem mein Canon Powershot G7 Kamera-Equipment.

Am ursprünglich geplanten Starttag gab’s zur Begrüßung: 15 Grad und strömenden Regen – in Tirol, wohlgemerkt. Da musste man sich schon fragen, ob man nicht versehentlich bei einer Norwegen-Durchquerung gelandet war. Die Prognose versprach Besserung – zumindest in homöopathischen Dosen. Also verschob ich den Start um einen Tag, in der vagen Hoffnung, dass das Wetter in drei Tagen so weit zur Vernunft gekommen wäre, dass ich halbwegs trocken über den Alpenhauptkamm klettern konnte.
Auch mein Bike bekam sein kleines Wellnessprogramm: neue Kette, frische Hans Dampf Trailstar-Reifen in stattlichen 2,35 Zoll und neue Griffe. Außerdem hatte der Fahrradhändler meinem Bike einen neuen Lapierre Zesty 514 Rahmen spendiert, nachdem beim letzten Alpencross der Rahmen im Innenlagerbereich gerissen war. Die GoPro-Ausrüstung verstaute ich in Rahmen- und Satteltasche, alles schön griffbereit für den Moment, wenn das Abenteuerfilmchen reif für Hollywood werden würde.

Mit knackigen 3 Bar Luftdruck rollte ich am Sonntagmorgen zum Münchner Hauptbahnhof – ganz der einsame Held auf dem Weg ins Ungewisse. Die Fahrradmitnahme im Regionalzug war wie gewohnt kein Thema – nur die dicken Reifen wollten partout nicht in die Halterung. Improvisation war gefragt. Und wie immer beim Bahnfahren auch eine gewisse Demut. Andere Biker verarbeiteten ihre Demut auf eine ganz individuelle Weise...

Die erste Etappe begann klassisch: von Füssen am Schloss Hohenschwangau vorbei, dem ehemaligen Spielplatz von König Ludwig II., der seine Kindheit erstaunlicherweise ohne Fully, GPS und GoPro überlebt hatte. Wenig später kam auch Neuschwanstein in Sicht – leider verpackt, als hätte man’s für den Umzug vorbereitet.
Ich navigierte mich durch die Touristenmassen, was eher einem Slalomrennen glich – inklusive unfreiwilligem Fotoshooting mit asiatischen Reisegruppen. Vorbei am Schloss Hohenschwangau hatte ich dann endlich Ruhe. Ich rollte über eine für Autos gesperrte Straße oberhalb des Alpsees – einer dieser stillen Momente, die man in sich aufsaugt.

Ein kurzer Abstecher zum Mariendenkmal bescherte mir einen tollen Blick auf den glitzernden See – bei gutem Wetter vermutlich ein Postkartenmoment. Heute eher: dramatisches Grau bei wolkenverhangenem Himmel mit einem kleinen Hoffnungsschimmer.

Die Straße zog sich durch den Wald, das erste alpine Kribbeln machte sich bemerkbar. Am Grenzübergang nach Österreich hatte ich das Gefühl, dass das eigentliche Abenteuer nun beginnen würde. Nach erfolgreichem Schmuggel meiner Pfeffersalami über die grüne Staatsgrenze – ein kulinarischer Akt zivilen Ungehorsams – bog ich scharf links ab und verließ die Hauptstrecke. Statt Asphalt wartete jetzt ein schmaler Waldpfad, wurzelig, feucht, aber flowig. Mein erstes echtes Trail-Highlight: ein welliges Band durch grünes Dickicht, das mich grinsend nach Oberpinswang im Lechtal spuckte.

Unten angekommen, kurzes Asphalt-Intermezzo, dann Brücke über den Lech. Der Fluss führte viel Wasser – kein Wunder bei dem Juliwetter. Ich folgte ihm stromaufwärts, erst über eine ruhige Nebenstraße, dann auf schönem Rad- und Wanderweg, vorbei an Reutte, bis Rieden bei Weißenbach.

Ein kleiner Moment surrealer Komik: Ich passierte ein Straußengehege, und sofort meldete sich der Magen. Straußensteak – zart, rosa, proteinreich. Ein kulinarischer Reflex. Die Vegetarier unter euch mögen mir verzeihen – ich war müde und hungrig.
In Rieden bog ich schließlich ins Rotlechtal ab. Eine grobe Forststraße schraubte sich steil, aber fahrbar in die Höhe. Letzter Blick zurück ins Lechtal, dann galt es, Rhythmus zu finden. Ich fuhr ruhig, gleichmäßig, konzentriert.

Nach etwa vier Kilometern erreichte ich den Rotlech-Stausee, aber aus der Pause wurde nichts. Dunkle Wolken zogen über die Liegfeist-Berge, es fing an zu tröpfeln – kein Ort für Gemütlichkeit. Weiter, schnell!
Kurz darauf verwandelte sich das Tröpfeln in Regen. Ich zog die Jacke an und suchte Unterschlupf. Ein glücklicher Zufall: eine große Futterkrippe am Wegesrand – mein Unterstand, meine Kantine. Ich nahm sie beim Wort und machte Brotzeit im Heustall-Ambiente. Der Regen prasselte, die Welt wurde grau, und ich kaute an meiner geschmuggelten Salami.

Nach einer halben Stunde ließ der Regen nach. Ich trat wieder in die Pedale, kam durch Rinnen – ein kleines Dorf, Asphalt unter den Reifen – und rollte vorbei am imposanten Wasserfall, der in die Rotlechschlucht stürzte. Kurz darauf bog ich rechts ab auf eine Schotterstraße. Nach etwa drei Kilometern zweigte links ein unscheinbarer Pfad ab – der Wanderweg Richtung Tarrentonalpe. Ich hielt an, musterte den Abzweig skeptisch. Bis hierher war alles fahrbar gewesen, sogar richtig schön. Aber dieser Pfad wirkte unheilvoll. Ich fuhr an, kam ein Stück weit – dann wurde der Weg schmal, rutschig, ausgewaschen. Nach 200 Metern war Schluss mit lustig. Kein Vor und kein Zurück. Alternative: Fehlanzeige.

Was dann folgte, war ein vier Kilometer langer Härtetest in Sachen Geduld, Ausdauer und Schimpfwort-Innovation. Der „Weg“ war eine Zumutung: ungepflegt, stellenweise kaum erkennbar, gesäumt von umgekippten Bäumen, zertrampelt von Kühen – und, wie es sich gehört, flächendeckend zugeschissen. Dazu kam die Topografie: Der Pfad verlief nicht etwa harmonisch den Hang hinauf, sondern wurde immer wieder von Bächen gequert, in die ich mühsam hinunter und auf der anderen Seite wieder hochklettern musste. Fast durchgehend trug ich das Bike auf den Schultern. Schieben? Unmöglich. Ich verlor Zeit, Kraft – und ein Stück guter Laune.

Gegen 18 Uhr erreichte ich endlich die hintere Tarrentonalpe. Ich war so fertig, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, das Sinnesjoch sausen zu lassen und direkt ins Tegestal abzutauchen. Doch ich verwarf den Gedanken schnell wieder. Es war der erste Tag. Eine Niederlage stand nicht im Plan.

Ab der Tarrentonalpe wurde es wieder humaner. Auf einer Forststraße kam ich flott voran, bis zum Schweinsteinjoch. Dort bog ich rechts ab – der letzte Anstieg zum Alpleskopf und schließlich zum Sinnesjoch begann. Der Pfad war in besserem Zustand, stellenweise musste ich schieben, aber immerhin ohne Todesverachtung.

Es war windig, kalt und der Regen war zurück. Dennoch schaffte ich es nach oben. Um kurz nach sieben stand ich auf etwa 1.800 Metern, auf einer offenen Almwiese mit grandioser Aussicht: Gurgltal, Inntal, Mieminger Kette, Wetterstein. Ein Gefühl von Erhabenheit, gemischt mit Erschöpfung. Ich war durch – körperlich – aber auch angekommen. Und genau das ist es, wofür ich Touren wie diese mache.

Die letzten Sonnenstrahlen kämpften sich noch einmal durchs Tal, dann wurde es düster. Regen kam zurück. Ich musste runter – und zwar schnell. Mein Ziel war eine Almhütte mit Vordach, aber der Weg zog sich. Der Regen nahm zu, es wurde kalt. Sehr kalt. Ich fuhr wie ein Besessener den matschigen Bergpfad hinunter, etwa zehn Grad, strömender Regen, die Finger klamm. Handschuhe? Im Rucksack. Lange Hose? Auch. Alles für die Nacht aufgehoben, denn lieber jetzt frieren als später zittern.

Die Reifen – Schwalbe Hans Dampf – klebten förmlich auf dem glitschigen Untergrund. Ein gutes Gefühl inmitten der Widrigkeiten. Schließlich erreichte ich die verschlossene Hütte der Bergwacht – meine Rettung. Ich spannte mein Tarp unter dem Vordach auf, rollte die Isomatte aus und schlüpfte in trockene Klamotten und den Daunenschlafsack.
Der Ortlieb-Rucksack war trocken geblieben. Bewährungsprobe bestanden. Ich lag da, klamm, aber sicher, und hörte den Regen aufs Tarp trommeln. Tag eins war überstanden. Kein Glanzstück an Eleganz – aber ein echtes Abenteuer.