Alpencross 2010 - Tag 1
[Etappe 1] [Etappe 2] [Etappe 3] [Etappe 4] [Etappe 5] [Etappe 6] [Etappe 7]Etappe 1
Füssen - Plansee - Heiterwang - Lermoos - Ehrwald - Fernstein
Länge: 63 km
Steigung: 1560 Hm
Am Tag davor hatte ich endlich Nägel mit Köpfen gemacht: Ich zieh das jetzt durch! Das Bergwetter? Wie gemalt. Drei Tage Sonnenschein deluxe, als hätte der Wettergott persönlich zum Abenteuer eingeladen. Die Solo-Transalp 2010 stand in den Startlöchern - und ich mittendrin.
Zugegeben, die Vorbereitung lief... sagen wir mal: kreativ. Ein halb demolierter Zeh und ein Muskelfaserriss im Wadl hatten mir vorher gezeigt, dass mein Körper nicht ganz so begeistert von der Idee war wie ich. Aber wo die Motivation auf Hochtouren läuft und der Abenteuerdrang tanzt, da kann so ein bisschen Trainingsrückstand ja wohl einpacken, oder?

Der Tag hatte schon um 5:30 Uhr begonnen, als ich mich noch im Halbdunkel mit dem Bike Richtung Münchner Hauptbahnhof aufmachte. Wer braucht schon Kaffee, wenn man im Zickzack durch schlafende Straßen jagt? Ich wollte meinen ersten Transalp-Tag vor dem Krähen des Hahnes starten - und rückblickend: goldrichtige Entscheidung!

Um Punkt 9:00 Uhr spuckte mich der Regionalexpress in Füssen aus – frisch, motiviert und mit leichtem Schlafdefizit. Mit einer Mischung aus Abenteuerlust und unbändiger Vorfreude schaltete ich mein Navi ein, stieg auf den Drahtesel und rollte los. Kaum hatte ich Füssen hinter mir gelassen, strahlte mir das märchenhafte Schloss Neuschwanstein entgegen. Und ja, ich gebe es zu – ich bin gebürtiger Bayer und hatte das Ding noch nie live gesehen. Aber besser spät als nie – und als Startlinie für meinen Alpencross? Besser hätte man’s nicht inszenieren können.

Statt mich gleich zu Beginn in den Verkehr bergauf einzuordnen, entschied ich mich für die etwas wildromantischere Variante: die Pöllatschlucht. Schon am frühen Morgen kurvten vereinzelt Autos und die ersten Touristenbusse durch die Gegend - ein Vorgeschmack auf das, was später noch kommen sollte. Mir war sofort klar: Je weniger Straßenkontakt, desto besser. Also Bike geschultert, rein in die Schlucht - und los ging der frühe Treppenmarathon.
Während ich mein Rad schwitzend, aber tapfer Stufe um Stufe nach oben trug, erntete ich ein paar amüsierte Blicke von einer kleinen italienischen Reisegruppe. Vermutlich dachten sie, ich hätte irgendeinen sportlichen Wetteinsatz verloren. Das Schild „Alpine Erfahrung erforderlich“ am Eingang des Weges quittierte ich mit einem kurzen Grinsen - das war wohl eher für die Massen gedacht, die hier zu späterer Stunde in Flip-Flops anrücken würden.

Kurz hinter der Marienbrücke – für Radfahrer offiziell tabu, aber ohnehin nur ein hübscher Hintergrund – eröffnete sich ein grandioser Blick auf den Alpsee und Schloss Hohenschwangau. Ein kurzer Fotostopp, ein tiefes Durchatmen – dann wieder rauf auf den Sattel. Schließlich war ich nicht zum Knipsen hier, sondern hatte noch ein paar ernstzunehmende Höhenmeter vor mir.

Ab jetzt wurde es sportlich: Eine asphaltierte Straße schlängelte sich steil bergauf – die Sorte Anstieg, bei der man kurz darüber nachdenkt, ob man wirklich genug gefrühstückt hat. Kurz vor der Bleckenau endete der Asphalt, und ein Schotterweg nahm das Zepter in die Hand. Teilweise so steil, dass ich mein Bike ein Stück schieben musste – aber lieber kurz zu Fuß als gleich am ersten Tag das Pulver verschießen.
Bald schon wurde es wieder entspannter. Der Weg folgte dem plätschernden Pöllatbach und führte durch die traumhafte Kulisse der Ammergauer Alpen – ein echter Genuss. An der Jägerhütte, einer bewirtschafteten Einkehr, rauschte ich ohne Reue vorbei. Kein Biergarten kann mit dem Trail konkurrieren, der jetzt anstand.

Und der hatte es in sich: Der Schützensteig – rund 2 Kilometer Trailvergnügen vom Feinsten. Wurzeln, Steine, aber alles fair und solide fahrbar auf S2-Niveau. Der perfekte Einstieg in meine Trail-Transalp. Wer braucht ein schon Almfrühstück, wenn man gleich so loslegen kann?
Unten spuckte mich der Trail auf die Straße Richtung Plansee aus. Die ersten paar Kilometer Asphalt lassen sich zum Glück geschickt umfahren – rechts zweigt ein Schotterweg ab, der sich als parallele Abfahrt durch die Natur entpuppt. Die letzten zwei Kilometer Asphaltstraße waren dann der Preis fürs Finale, aber angesichts des Ziels – der türkisblau schimmernde Plansee – war das absolut zu verschmerzen.

Dort angekommen: kurze Lagebesprechung mit mir selbst. Nord- oder Südseite? Ich entschied mich für die Südroute – ein schmaler Pfad direkt am Wasser, technisch nicht zu fordernd, aber landschaftlich ein Volltreffer. Und weil der See so verführerisch dalag und die Salzkruste auf der Haut langsam knisterte, gönnte ich mir ein Bad in einer versteckten Bucht. Hemd runter, Hose hinterher – rein ins kühle Nass! Wenn das kein würdiger Alpencross-Auftakt ist, dann weiß ich auch nicht.

Nach etwa 20 Minuten zwang mich eine entschlossene Moskitopatrouille zur Weiterfahrt. Der Weg entlang des Südufers war größtenteils gut fahrbar, mit kleinen Unterbrechungen – zweimal kurzes Schieben über Geröll, einmal ein paar Stufen hoch, alles kein Drama. Wanderer waren natürlich auch unterwegs, aber mit etwas Rücksicht klappt das Miteinander problemlos.

Am Ende des Plansees wurde der schmale Uferpfad wieder zivilisierter – ein breiter Schotterweg nahm mich in Empfang. Der Weg führte mich entspannt am Heiterwanger See entlang, bis ich schließlich links auf die Via Claudia Augusta einbog – hier auch als Zugspitz-Panoramaweg bekannt. Und ja, der Name ist keine Übertreibung: Schotter unter den Reifen, sanfte Wellen im Gelände, kein Verkehr weit und breit – dafür grandiose Ausblicke und echtes Flow-Gefühl von Heiterwang über Bichlbach bis nach Lermoos.
Und dann: der große Auftritt der Zugspitze. Bei Lermoos kam das gewaltige Massiv ins Bild, als hätte jemand eine riesige Theaterkulisse aus dem Boden gezogen. Ein Anblick, bei dem man fast vergisst zu treten – aber eben nur fast.

Ab Ehrwald wurde es noch schöner. Der Weg führte durch einen Lärchenwald, wie aus einem Landschaftsgemälde. Die Bäume ragten kerzengerade in den Himmel, der moosige Boden darunter schimmerte in sattem Grün. Es war, als würde man durch ein stilles Naturdom wandern – nur eben auf zwei Rädern.
Nach etwa fünf Kilometern kam ich am Weißensee vorbei. Und ja – der Ruf des kühlen Wassers war verlockend. Aber leider hatten die Bremsen – in Fachkreisen Tabanidae, im Volksmund einfach nur „nervtötend“ – etwas dagegen. Schon seit dem Plansee waren sie mir auf den Fersen, aber hier fühlten sie sich offenbar besonders wohl. Also: keine Badepause, dafür Tempo machen.

Der nächste Abschnitt verlangte nochmal Körpereinsatz: Etwa 200 Höhenmeter Richtung Nassereither Alm, wobei mein Ziel gar nicht die Alm selbst war. Etwa auf halber Strecke bog ich auf die Via Claudia Richtung Fernpass ab. Nach rund 60 Kilometern in den Beinen war ich ziemlich am Ende und gönnte mir eine längere Verschnaufpause. Von meinem Rastplatz aus sah ich hinunter auf den tiefblauen Blindsee, ein echtes Juwel, und weiter hinten auf den Fernsteinsee – beides Tauchreviere, die nicht nur unter Wasser einiges hermachen.

Frisch gestärkt – oder zumindest wieder halbwegs aufrecht – rollte ich los. Wobei „rollen“ es nicht ganz trifft. Ich bretterte regelrecht die Schotterpiste hinunter. Zwei Kilometer später erreichte ich die Bundesstraße, fuhr 100 Meter aufwärts, nur um dann gleich links auf einen unscheinbaren, aber goldwerten Singletrail Richtung Fernstein abzuzweigen. Der Trail ist die klare Wahl – die Bundesstraße runterzufahren, wäre nicht nur langweilig, sondern auch lebensmüde gewesen. Allerdings: Der Trail war wegen Steinschlag offiziell gesperrt. Aber da ich weder Rollator noch Kinderanhänger dabeihatte, ignorierte ich das Schild und fuhr wie geplant weiter. Was folgte, war Fahrspaß in Reinkultur: Nach einem kurzen Holzsteg ging’s auf einem ruppigen, steinigen Pfad bergab – technisch irgendwo zwischen S1 und S2, aber komplett machbar und richtig unterhaltsam.

Und dann – der Rückschlag. Unten in Fernstein angekommen, wollte ich kurz aufs Navi schauen... nur: kein Navi da. Irgendwo auf dem Trail hatte sich das gute Stück klammheimlich aus der Halterung verabschiedet. Ein kurzer innerer Aufschrei, dann der Rückmarsch. Ich schob das Bike den kompletten Trail wieder hoch bis zum Holzsteg – dort hatte ich es definitiv noch. Doch trotz aller Suche: nichts. Wahrscheinlich liegt es jetzt irgendwo zwischen zwei Felsbrocken und lacht mich stumm aus. Fazit: Garmins Standardhalterung – durchgefallen auf ganzer Linie. Fruststufe? Hoch.

Um meine Nerven zu beruhigen, steuerte ich das Restaurant am Campingplatz Fernsteinsee an. Dort gab’s Pizza – oder etwas, das vermutlich mal eine sein wollte. Mit einer Apfelsaftschorle habe ich das trockene Stück Teig mehr runtergespült als gegessen. Währenddessen wälzte ich Gedanken: Wie soll’s jetzt weitergehen? Ohne Navi? Ohne meine sorgfältig geplanten Routen? Wochenlang hatte ich Tracks gesammelt, optimiert, die besten Pfade recherchiert – und nun das. Alles umsonst?
Irgendwann zwang ich mich zum Aufbruch. Den letzten Rest Pizza ließ ich auf dem Teller zurück (und das will was heißen!), schulterte meinen Rucksack, stieg wieder auf mein Bike und fuhr ins abgelegene Tegestal. Dort fand ich einen ruhigen Platz, schlüpfte völlig erschöpft in meinen Schlafsack und schaute den Sternen beim Aufgehen zu. War das schon das Ende meiner Alpencross-Reise? Oder einfach nur der Moment, in dem aus einem Plan ein echtes Abenteuer wurde?