Alpencross 2010 - Tag 2
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Fernstein - Imst - Roppen - Ötztal - Sölden - Hochsölden
Länge: 71 km
Steigung: 1950 Hm
Es dämmerte gerade, als ich die Augen öffnete. Irgendetwas an der frischen Bergluft, am Licht der aufgehenden Sonne oder vielleicht einfach an der Ruhe des abgelegenen Tegestals hatte mein Inneres neu sortiert. Es war etwa 4:30 Uhr. Mein Kopf: klar. Die Niedergeschlagenheit vom Vorabend? Wie weggeblasen. Was jetzt folgte, war keine Frage mehr – es war ein Entschluss. Ich würde die Transalp fortsetzen. Aufgeben war keine Option. Zum Glück hatte ich meine Notfall-Karten aus Papier dabei, mit sorgfältig eingezeichneter Route. Die Tracks auf dem Navi waren verloren, keine Frage – aber der Weg war noch da. Und ich würde ihn finden.

Die Bremsen, diese fliegenden Vampire mit Hang zur Penetranz, hatten mir nachts endlich eine Atempause gegönnt. Die juckenden Beulen an Armen, Hals und Beinen zeugten zwar noch vom gestrigen Kampf, aber kratzen half bekanntlich wenig. Also ignorieren. Helm auf, Sattel runter, los geht’s.
Der flowige Waldtrail führte mich quer durchs Tegestal, vorbei an St. Wendelin, dann am plätschernden Gurglbach entlang durch das noch schlafende Nassereith. Die Via Claudia Augusta lotste mich sicher weiter durchs Gurgltal bis nach Imst – der Tag nahm Fahrt auf.

Hinter Imst bog die Route ins Inntal ab. Es ging oberhalb des Inns durch das verschlafene Karres nach Roppen. Dort fiel die Straße steil ab bis zur großen hölzernen Brücke über den Inn. Kaum war ich unten, schlängelte sich der Weg auch schon wieder steil hinauf Richtung Mairhof – 100 Höhenmeter in kurzer Zeit. In Sautens angekommen, und wenig später auch in Ötz, unternahm ich noch halbherzige Versuche, ein Ersatz-Navi aufzutreiben – vergeblich. Ohne passende Speicherkarte und Zugang zu meinen Online-Tracks hätte das ohnehin wenig gebracht. Also: zurück zur Papierkarte, zurück zur Orientierung per Bauchgefühl, Sonne, Karte und Straßenschild.

Mein Tagesziel: Sölden, gut 35 Kilometer entfernt. Das Ötztal ist landschaftlich ein echtes Highlight – leider durchzogen von der lärmenden Bundesstraße, auf der sich Wohnmobile, Motorräder, LKWs und genervte Autofahrer gegenseitig den Weg streitig machen. Die Kunst besteht darin, dieser Verkehrsader so oft es geht zu entkommen.

Und das gelingt – wenn auch nicht ohne Anstrengung. Immer wieder führen kleinere Wege parallel zur Straße, was allerdings regelmäßig in zusätzliche Höhenmeter mündet. Bei Tumpen geht es auf ruhigen Nebenstrecken entlang der spektakulären Engelswand, ein Paradies für Kletterer. Hinter Lehn überquert man die Ötztaler Ache, um ihr dann auf der rechten Flussseite auf einem wunderschönen Pfad bis Längenfeld und weiter nach Huben zu folgen.
In Huben legte ich eine ausgedehnte Mittagspause ein – die Lasagne in der Pizzeria Rustica war ein Volltreffer, dazu ein Radler. Die Welt war wieder in Ordnung.

Zwischen Huben und Brand wurde ich dann wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: teilweise ging’s direkt an oder sogar auf der Bundesstraße entlang – unangenehm, aber unvermeidlich. Ab Brand durfte ich den Verkehr erneut hinter mir lassen, wenn auch zum Preis einer besonders fiesen Steigung: 100 Höhenmeter auf kurzer Strecke. Aber lieber mit brennenden Waden als zwischen hupenden LKWs.
Sölden rückte näher – und mit ihm die Erschöpfung. Das Ötztal hatte sich als fordernder Gegner erwiesen, viel mehr als es das Höhenprofil vermuten ließ. Ein stetes Bergauf, viele kleine Rampen, wenig Erholung. Als ich schließlich in Sölden ankam, fiel mein Blick auf die Giggijochbahn. Kurz entschlossen rollte ich zur Talstation, erkundigte mich, ob Fahrradtransport möglich sei – war er. Keine zehn Minuten später saß ich in einer leeren 8er-Gondel, mein Bike neben mir, und ließ mich in aller Ruhe 900 Höhenmeter nach oben tragen. Die Beine dankten es mir.

Oben angekommen: Touristenrestaurant, großer Salatteller, noch ein Radler. Draußen das Panorama der Stubaier Alpen, ein Ausblick wie aus einem Bergfilm. Ich ließ mir Zeit, genoss das Gefühl, wieder Herr der Lage zu sein. Als der Nachmittag langsam in den Abend überging, verließ ich die touristische Infrastruktur und suchte mir eine abgelegene Almwiese. Dort wartete ich auf die Nacht. Kein Navi, kein Empfang, kein Problem. Nur mein Bike, mein Schlafsack – und ein Himmel voller Sterne.

Rückblickend hatte ich unglaubliches Glück mit dem Wetter. Ein Regenguss hätte mit meiner minimalistischen Ausrüstung – dünne Schaumstoff-Isomatte, Sommerschlafsack und Biwaksack – schnell zum Desaster führen können. Viel mehr als sternenklare Nächte und morgendlichen Tau hätte ich kaum verkraftet. Doch das Wetter hielt. Als hätte es gewusst, dass ich keinen Plan B hatte.