Alpencross 2011 - Tag 1
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Immenstadt - Oberstdorf - Steinscharte - Steeg - Kaisers
Länge: 58 km
Steigung: 1720 Hm
Diesmal war es ein verregneter Juni und ein winterlicher Juli, die meinen Trainingsplänen den Garaus gemacht hatten. Tiefdruckgebiet auf Kaltfront, Regen auf Dauerregen – die Alpen schienen mir ihre Zähne zu zeigen, noch bevor ich überhaupt den ersten Höhenmeter gefahren war. Also verschob ich den Start auf August. Immerhin: Im April und Mai hatte ich regelmäßig trainiert und einige anspruchsvolle Touren gemacht. Ich redete mir jedenfalls ein, diesmal fitter zu sein als 2010. Was gut war – denn die neue Route würde mir definitiv mehr abverlangen.
Die Vorbereitungen waren jedenfalls abgeschlossen. Wochenlang hatte ich getüftelt, geplant, reduziert, gewogen. Jeder Ausrüstungsgegenstand war überdacht, jedes Gramm Gepäck optimiert. Die Kameraausrüstung wurde optimiert auf die Canon Powershot G12. Das Bike war generalüberholt, die Rückfahrt gebucht, der GPS-Track auf dem Navi – und die Vorfreude riesig. Es war also wieder soweit: Der Solo-Freeride-Alpencross 2011 konnte beginnen!

Im Juli war es endlich an der Zeit, für einige Tage den verrückten Alltag komplett hinter mir zu lassen. Finanzkrise, Schwarzer Freitag am 5. August, massive Abwertung der Weltwährungen EUR und USD, Herabstufung der USA auf AA+, berechtigte Sorge der Bürger um ihre Ersparnisse, ungewisse Zukunft in Europa, Beschwichtigungsversuche aus der Politik die niemand mehr glaubt. All das würde für eine Woche keinen Raum in meinen Gedanken mehr einnehmen. Stattdessen saß ich auf meinem bewährten Fully und radelte mal wieder in Richtung Münchner Hauptbahnhof.

Durch einen glücklichen Zufall hatte ich rechtzeitig erfahren, dass die Bahn wegen Hochwasserschäden zwischen Sonthofen und Oberstdorf die Illerbrücke erneuerte – und man dort auf Schienenersatzverkehr umsteigen musste. Darauf hatte ich keine Lust. Also verließ ich den Zug bereits in Immenstadt und radelte gemütlich auf dem verkehrsfreien Iller-Radweg bis nach Oberstdorf. Diese spontane Eingebung hatte noch einen weiteren Vorteil: Ich hatte beschlossen, bereits am Vorabend anzureisen, um die Große Steinscharte am nächsten Morgen frisch und früh in Angriff nehmen zu können.

Der Iller-Radweg ist angenehm unspektakulär, führt flach und entspannt durch die Allgäuer Wiesenlandschaft. Oberstdorf tauchte schließlich vor mir auf – dieser typische Ausgangspunkt für Alpencrosser, wo jedes Jahr Scharen von Bikern in Richtung Süden aufbrechen. Doch ich hatte andere Pläne. Keine der klassischen Routen. Stattdessen: Schieben, tragen, einsame Pässe, schmale Höhenwege – das volle Programm.

Hinter der Talstation der Nebelhornbahn bog ich auf ein kleines Asphaltsträßchen ins Stillachtal ein. Die untergehende Sonne zauberte warmes Licht auf die zerklüfteten Gipfel von Mädelegabel und Wildem Mann, während ich langsam an Höhe gewann. Die Straße wurde steiler, das Tal enger. Ab Faistenoy ist für Autos Schluss, für mich begann der ruhige Teil.

Die Schatten wurden länger, die Sonne hatte sich längst hinter den Felswänden verkrochen, als ich schließlich in der Nähe der Breitengernalpe im Rappenalpental mein Nachtlager aufschlug. Es war den ganzen Tag über mit rund 15 °C kühl gewesen, aber mit dem Sonnenuntergang kam die Kälte schnell und kompromisslos. Ich zog alles an, was ich dabeihatte – jede Lage zählte. Dann verkroch ich mich in meinen Schlafsack, um wenigstens ein paar Stunden Wärme zu speichern, bevor der große Tag anbrechen sollte.

Es war noch dämmrig, als ich mich aus dem Schlafsack schälte. Die feuchte Kälte der Nacht hatte sich tief in die Knochen gefressen. Auch wenn ich nahezu alles trug, was mein Rucksack hergab, hatte ich erbärmlich gefroren. An wirklichen Schlaf war kaum zu denken gewesen – eher eine Abfolge aus Dösen, Frieren und Umdrehen. Aber gut, genau diese Situationen gehören zum Abenteuer. Also raus aus dem Sack, Zähne zusammenbeißen die Ausrüstung einpacken. Immer noch frierend nahm ich Kurs auf die Große Steinscharte – einen einsamen Übergang, den sich kaum ein Mountainbiker freiwillig antut. Genau deshalb stand er auf meiner Route.

Rund 600 Höhenmeter über mir lag die Enzianhütte – mein erstes Etappenziel an diesem Morgen. Die Aufwärmphase war kurz: Nach fünf Minuten auf dem ersten steilen Anstieg war mir warm, sehr warm. In der Morgendämmerung schob ich das Bike stetig bergauf, unterbrach mein Tempo aber immer wieder, um die rotglühenden Gipfel in der Ferne zu fotografieren. Die Bergspitzen leuchteten im Licht der aufgehenden Sonne wie aus einer anderen Welt.

Kurz vor der Petersalpe zweigte der Pfad zur Enzianhütte ab – und mit ihm änderte sich der Charakter des Weges schlagartig. Der breite Weg wurde zum schmalen Pfad, dann zum ruppigen Steig. Steil, felsig, verwachsen – und von beiden Seiten derart zugewuchert, dass ich das Bike nur mühsam auf den Schultern hindurchbugsieren konnte. Schieben war hier keine Option mehr, höchstens Slalomlaufen mit Metallrahmen überm Kopf.
Der Aufstieg kostete Körner. Viel mehr, als ich erwartet hatte. Erst kurz vor der Hütte lichtete sich das Dickicht, und plötzlich öffnete sich vor mir ein weiter Blick über das dämmerige Allgäu – ein Meer aus Bergkämmen und Nebelschleiern. In solchen Momenten weiß ich wieder, warum ich mir solche Torturen antue. Da oben, im ersten Licht des Tages, fühlen sich alle Strapazen plötzlich richtig an.

Dann stand sie vor mir: die Enzianhütte. Laut Schild mit Sauna, Dusche und Whirlpool ausgestattet – offenbar hat sich der Anspruch des Durchschnittsbergwanderers in den letzten Jahren etwas gewandelt. Ich ließ mich in der Morgensonne auf der Terrasse nieder, bestellte eine Buttermilch und genoss die Wärme auf der Haut. Drinnen war Frühstückszeit, und durch ein gekipptes Fenster hörte ich erstaunte Stimmen: „Schaut mal, da ist einer mit’m Fahrrad!“ Offenbar eine Rarität an diesem Ort. Verständlich.

Der folgende Pfad zog sich erst moderat am Hang entlang, bevor es wieder ernst wurde. Von der Talsohle bis zur Enzianhütte hatte ich bereits zwei Stunden mit dem Bike auf dem Rücken verbracht – und es sollten noch zwei weitere folgen. Teils schiebend, meist tragend, kämpfte ich mich bis zur Rappenseehütte hoch. Diese hatte ja 2009 traurige Bekanntheit erlangt, als rund 200 Gäste an Durchfall erkrankten – just in dem Sommer, als die UV-Entkeimungsanlage ausgefallen war. Zwar wurde der Zusammenhang nie bewiesen, aber ich nahm mir trotzdem vor, meine Flasche besser nicht im Waschraum aufzufüllen.
Auf der Almwiese vor der Hütte gönnte ich mir eine halbe Stunde Pause, ließ den Blick über die Szenerie schweifen: Rappensee, Hütte, und der Anstieg hinauf in Richtung Hohes Licht. Der Ausblick war zwar großartig – der Anblick des bevorstehenden Hangstücks allerdings weniger. Doch es half nichts: Schultern lockern, Bike greifen, weiter.

Gegen 11:00 Uhr, nach fünf Stunden im Aufstieg, stand ich endlich oben auf der Großen Steinscharte. Und wie so oft stellte sich mir die alljährliche Frage: Warum, zum Teufel, tu ich mir das eigentlich an? Die Antwort kam prompt – in Form eines Anblicks, der alle Zweifel wegfegte. Vor mir lag ein gigantischer Geröllkessel, eingerahmt von schroffen Felsriesen, mit dem Hohen Licht als steinerner Krone direkt voraus. Solche Momente haben eine eigene Magie. Ich blieb lange einfach nur stehen. Staunend. Still.

Ich legte eine weitere Pause ein – nicht nur für die Beine, sondern auch für den Kopf. Die Stille, die frische Höhenluft, das Gefühl von Weite – das alles ist für einen Stadtmenschen wie mich jedes Mal ein Erlebnis, das sich in die Erinnerung brennt. Irgendwann entdeckte ich die ersten Murmeltiere. Erst waren sie in ihren Löchern verschwunden, dann lugten sie vorsichtig hervor. Ihre typischen Warnpfiffe begleiteten meine Anwesenheit wie ein alpines Pfeifkonzert. Wanderer kamen nun häufiger vorbei, viele davon mit dem Hohen Licht als Ziel. Sie grüßten freundlich, teils mit ehrlichem Respekt – ein Mountainbiker auf dieser Route war offenbar eine seltene Spezies.
Besonders im Gedächtnis blieb mir ein Trailrunner. Eine Erscheinung wie aus einem Alpenthriller: bunte Laufklamotten, sonnengegerbte Haut, sehnig, drahtig – und unter der Gletscherbrille ein breites Lächeln, das von tiefen Lachfalten eingerahmt wurde. Ich schätzte ihn auf gute 60 Jahre, vielleicht auch mehr. Nach einem kurzen Gruß verschwand er in Richtung Heilbronner Weg. Und ich dachte: Der verdient noch deutlich mehr Respekt als ich.

Nach einer ausgedehnten Brotzeit und einem letzten tiefen Schluck aus dem Trinkschlauch wanderte mein Blick prüfend die Geröllpiste unter mir entlang. Irgendwo da unten musste er verlaufen – der Trail hinunter nach Steeg. Der Sattel wanderte in Tieflage, ein prüfender Blick ins Tal, dann schwang ich mich in Erwartung des Abenteuers auf den Sattel. Das hier würde spannend werden, so viel war sicher.
Um es gleich vorwegzunehmen: Der Trail durchs Hochalptal ist für Mountainbiker eine einzige Zumutung. Ein Desaster auf zwei Reifen. Man kann das Tal in zwei Abschnitte unterteilen – oben und unten. Im oberen Teil geht’s etwa 100 Meter fahrend voran, dann ist Schluss mit lustig. Verblockt, steil, lose, felsig, stellenweise von fragwürdiger Wegexistenz – ein Gelände, das einem das Fürchten lehrt. Selbst mit gutem Willen und bester Technik: Hier geht nichts mehr. Die wenigen S4-Passagen, die überhaupt fahrbar schienen, boten bestenfalls kurze 50-Meter-Fenster, in denen ich meine Freeride-Fähigkeiten auf S3-Niveau antesten konnte – mit schwankendem Erfolg.

Weiter unten wurde es zunächst ein wenig besser. Der Trail streckte sich in engen Kurven an der rechten Talflanke entlang, technisch herausfordernd, aber halbwegs flowig. Es keimte Hoffnung auf. Dann rutschte mir am Rand eines schmalen Abschnitts das Hinterrad weg – zack, und ich lag kopfüber im Hang, eingebettet in ein weiches Polster aus Latschenkiefern. Kopf unten, Füße oben, wie ein umgefallener Maikäfer. Es dauerte ein paar unbeholfene Verrenkungen, bis ich mich aus der misslichen Lage befreit hatte. Glück im Unglück: Weder das Bike noch ich trugen Schaden davon. Nur meine heiß geliebte Brotzeit – ein gigantisches Ciabatta mit Salami, Käse, Rucola und Chilisauce – war aus dem Helmnetz meines Rucksacks entfleucht. Ich bemerkte den Verlust erst ganz unten im Tal. Schmerzhaft.

Nach diesem S2-Trail folgte ein Waldweg, der auf der Karte zuhause harmlos ausgesehen hatte. In der Realität war er eine brutale Mischung aus Wurzeln, Felsen und extremem Gefälle – ein klarer Fall fürs Schieberegister. Und dann verschwand der Weg ganz. Der GPS-Track führte schnurstracks in ein wucherndes Dickicht aus Farnen, kniehohem Gras und widerspenstigem Unterholz – und endete abrupt etwa 15 Meter über einer einsamen Straße. Der folgende Abstieg war kein Trail mehr, sondern ein verzweifelter Balanceakt zwischen Fluchen, Rutschen und kontrollierter Verzweiflung. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich mich samt Bike irgendwie nach unten gefaltet hatte.
Ich ließ das Rad rollen. Die Straße nach Steeg lag vor mir wie eine Einladung zur Erlösung. Am Dorfbrunnen stoppte ich. Ich war durstig, hungrig – und erschüttert über den endgültigen Verlust meines epischen Sandwiches. Mein Gesichtsausdruck verriet vermutlich alles.

15:00 Uhr. Neun Stunden war ich seit dem Aufbruch unterwegs. Eigentlich hatte ich heute noch die Leutkircher Hütte im Plan gehabt. Ein schöner Gedanke. Realistisch war daran nichts mehr. Mir wurde klar, dass dieser Tag nicht nur mein Zeitbudget zerschossen hatte, sondern auch meine Routenplanung als solche. Zu viele der kommenden Pässe würden sich als komplette Tagestouren entpuppen. Ich würde kürzen müssen. Umplanen. Improvisieren. Verdammt.
Ich war körperlich durch und mental ziemlich angenagt. Aber ich wollte wenigstens noch bis Kaisers kommen. Diese letzten 400 Höhenmeter Straße hatten es nochmal in sich – meine Beine protestierten bei jedem Tritt. Als ich schließlich das kleine Bergdorf erreichte, zog ich in die nächstbeste Pension ein. Ein Zimmer mit Ausblick – mir egal wohin. Hauptsache kein Biwak in der Nähe des Gefrierpunkts.
Am Abend saß ich lange still in meinem kleinen Zimmer, grübelnd über Karte und Optionen. Und irgendwann, nach all dem Frust, kam der Schlaf. Tief. Traumlos. Zehn Stunden lang. Und verdient wie selten.