Alpencross zu Fuß 2014 - Tag 4
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Kappl - Grübeletal - Malfragkopf - Metzspitzen - Ochsenscharte - Pfunds
Länge: 26 km
Steigung: 1950 Hm
Nach einem Tag, der ausschließlich aus den Disziplinen „Bettliegen“ und „Toilettensprint“ bestand, fühlte ich mich am nächsten Morgen immerhin wieder halbwegs wie ein Mensch. Noch nicht fit, aber funktional. Ich lag einen Tag hinter meinem Zeitplan – und genau das wurmte mich. Nach längerem inneren Ringen traf ich eine Entscheidung, die mir nicht leichtfiel, aber strategisch sinnvoll war: Ich würde die Etappe über die Edmund-Graf-Hütte und das 2670 Meter hohe Kappler Joch nach Kappl überspringen und mit dem Bus umfahren. Die härtesten Abschnitte lagen ja sowieso noch vor mir. Mit einmal Umsteigen in Pians bei Landeck spuckte mich der Bus an der Ahlesbrücke in Kappl wieder aus – von dort ging’s direkt zur Sache: Ein erbarmungslos steiler Waldpfad trieb den Puls wieder auf Betriebstemperatur.

Schnell hatte ich die ersten 500 Höhenmeter eingesammelt. Danach ging es etwas entspannter über Almwiesen am Grübelebach entlang – ein freundlicheres Gelände, das mir nach dem Totalausfall der letzten Tage sehr willkommen war. Der Himmel zeigte sich in tadellosem Blau, das Tiefdruckgebiet hatte sich verzogen und ich spürte zum ersten Mal auf dieser Tour: Das hier könnte wieder was werden.

Kühe und Esel hatten das Tal unter sich aufgeteilt – ein paar der Langohren begleiteten mich neugierig bis zum nächsten Elektrozaun, wo der Strom dem Sozialverhalten ein abruptes Ende setzte.

Erst nach einer Weile trat ich aus dem tief eingeschnittenen Grübeletal heraus und spürte die ersten Sonnenstrahlen dieses Trips auf der Haut. Ich feierte den Moment innerlich – und die Tatsache, dass ich meine Sonnenbrille nicht umsonst mitgeschleppt hatte.

Still und verlassen lag der Grübelesee auf über 2100 Metern. Eine kleine Hütte stand am Ufer, menschenleer, dafür grasten ein paar Kühe seelenruhig in der Morgensonne. Der Pfad führte gut erkennbar am Ostufer entlang, bevor er nach dem See schleichend wieder steiler wurde.

Ab etwa 2400 Metern ging der Karrenweg in einen schmalen Steig über, der sich steinig und zunehmend ruppig nach oben wand. Ich genoss das herrliche Wetter und die grandiose Aussicht, während ich konstant und schwitzend nach oben stieg.

Auf rund 2600 Metern erreichte ich die sogenannte Ochsebene – ein karges Hochplateau mit einer winzigen, verschlossenen Notunterkunft und einem Trinkwasserbrunnen, der mir in diesem Moment wie eine Oase erschien. Ich gönnte mir 15 Minuten Sonne, Aussicht und mentale Aufrüstung für den kommenden Abschnitt.

Kurz darauf wurde es felsiger. Die Vegetation verabschiedete sich endgültig. Wegmarkierungen? Fehlanzeige. Aber mein GPS wusste immerhin ungefähr, wo’s langgeht. Eigentlich sollte der Weg Richtung Malfragbach absteigen – ich aber entschied mich für den Direttissima-Aufstieg zum Oberen Malfragkopf. Über Geröllfelder und Altschneereste kämpfte ich mich nach oben.

Technisch war’s nicht schwer, aber das Gelände forderte Konzentration und Kraft. Als ich schließlich den Kamm erreichte, haute mich der Ausblick fast um: Die Luft war klar, der Horizont gestochen scharf – von den Ötztaler Alpen bis zur Sesvenna-Gruppe reichte der Blick. Ich konnte nicht anders – ein Laut des Staunens entfuhr mir. So muss sich das anfühlen, wenn man kurz mal Gott die Hand schüttelt.

Unter mir zog ein Adler seine Kreise – ein seltener Anblick, der leider zu kurz währte, um ihn mit der Kamera einzufangen. Die letzten 40 Höhenmeter zum Gipfel des Malfragkopfs (2750 m) waren dann Formsache. Kein offizieller Weg führt hierher, und trotzdem stand dort oben ein Steinmandl. Und sogar eine Kerze. Irgendwer war also vor mir hier – und offenbar nicht in Eile.

Der Abstieg führte mich nordwestlich hinunter zur Fließer Stieralpe. Zunächst steil, aber nicht gefährlich über schiefrigen Schutt. Ich versuchte mich hangseitig zu halten, um Höhenmeter zu sparen – keine gute Idee. Das Gelände war brüchig, steil und nervtötend. Irgendwann gab ich auf, stieg doch bis zur Alpe ab, wo der Untergrund zwar nicht weniger geröllig, aber zumindest flacher war.

Die Stieralpe selbst ist ein sumpfiges Hochtal, in dem sich sämtliche Bäche der Umgebung treffen – ideal für Kühe und leider auch für Bremsen. Ich hatte auf 2300 Metern nicht mehr mit diesen Blutsaugern gerechnet, aber offenbar hatten sie dort oben eine Premium-Kinderstube gefunden. Ich durchquerte das Tal mit zusammengekniffenen Augen und hektischen Abwehrbewegungen, mehrfach durchzogen von feuchten Wiesen und Bachläufen, bis der Weg 712a begann – mit einem letzten Anstieg zur Metzspitzen auf 2580 m.

Danach ging es erstmal wieder querfeldein bergab, bis ich endlich auf einen markierten Weg stieß, der mich auf die 2790 m hohe Ochsenscharte brachte. Auch dort gab’s wieder Altschneefelder in Hülle und Fülle.

Die Ochsenscharte war der letzte echte Höhepunkt des Tages – im wahrsten Sinne. Oben angekommen, durchfuhr mich ein Gefühl der Erleichterung und des Stolzes: Ich hatte diesen abenteuerlichen Tag wirklich geschafft. Jetzt ging’s nur noch bergab.

Unter mir lag der Gmairersee, eingerahmt von Geröll und Schneefeldern. Der Weg dorthin war ein sanft fallender Hang, überraschend gut zu gehen. Vom See aus folgte ich dem Stubenbach talabwärts.

Die Ochsenbergalpe, eine vollkommen verlassene Hochebene auf etwa 2500 m, hätte sich ideal für ein Biwak angeboten. Wäre da nicht der Zeitdruck gewesen – ich wollte heute noch bis Pfunds runter, um die Rückreise nach Meran nicht zu gefährden. Also weiter durch das Stubental, das sich mit einem teils verfallenen Pfad zur Ochsenbergalm (2080 m) hinunterschlängelte.

Und dann kam er: der Monsterabstieg. 1000 Höhenmeter auf einer endlosen, mit Kuhfladen gespickten Forststraße. Zwei Stunden lang schlich ich talwärts, müde, staubig, abgekämpft. Ich war nicht mehr Wanderer, sondern Maschine – ein Roboter im Wanderschrittmodus, gesteuert vom Wunsch, einfach nur anzukommen.

In Pfunds angekommen, nahm ich das erstbeste Zimmer, wusch mein schweißgetränktes, salzverkrustetes Hemd im Waschbecken, schleppte meine schmerzenden Beine ins nächste Restaurant und inhalierte eine Portion Spaghetti. Über 25 Kilometer Strecke und fast 2000 Höhenmeter – das war die härteste Etappe meines Lebens. Und dabei war ich keinem einzigen Menschen begegnet. Kein Wunder: Diese Wege waren abseitig, kaum bekannt, und ich war mitten in der Woche unterwegs – genau wie ich’s mag. Wild, einsam, ehrlich.
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