Alpencross zu Fuß 2014 - Tag 5
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Pfunds - Nauderer Tschey - Tscheyer Schartl - Melag
Länge: 23 km
Steigung: 1900 Hm
Nach einem wunderbar tiefen, beinahe komatösen Schlaf fühlte ich mich am nächsten Morgen wie neugeboren – fit, klar im Kopf und erstaunlich motiviert. Gut so, denn was heute anstand, war keine Spazierfahrt: ein langer, zäher Anstieg mit anschließender Gipfelüberschreitung hinüber ins Langtauferer Tal. Ich machte mich also früh am Morgen in Pfunds auf den Weg und begann den Aufstieg durchs Radurschltal. Nach etwa einer Stunde trat ich auf jenen Punkt zu, an dem ich – ganz der kreative Routenbastler – ursprünglich eine alternative Passage entlang des Saderer Bachs ins Auge gefasst hatte. Über den Schartlkopf, dann Tscheyegg und den Arzkopf zum Großen Schafkopf sollte es gehen, ein kleines Abenteuer-Upgrade. Der Gedanke war reizvoll, aber die Realität siegte: Das Ganze wäre schlicht nicht an einem Tag zu schaffen gewesen. Also verwarf ich den Plan mit einem Seufzer der Vernunft.
Ein kurzes Stück weiter stieß ich auf einen Parkplatz. Von hier zweigte mein Weg nach rechts ab – hinein ins Nauderer Tschey. Geradeaus wäre man auf direktem Wanderweg zum Hohenzollernhaus gekommen, das nicht mein Ziel war. Ich bog also ab, die Sonne blitzte über die Bergrücken, und ich trat weiter. Unmterwegs begegnete ich ein paar Schottischen Hochlandrindern, die mich neugierig beäugten.

Nach etwa einer halben Stunde erreichte ich einen Gebirgsbach, den Nauderer Tscheybach. Eine Brücke hätte mir hier die Füße trocken gehalten – hätte, denn ein Hochwasser hatte das gute Stück offenbar in die Versenkung gerissen. Ich tat, was man in solchen Momenten tut: Schuhe aus, Hosenbeine hoch und durch. Das Wasser war eisig, klar und überraschend tief. Drüben angekommen, spürte ich meine Zehen wieder nach fünf Minuten.

Schon bald betrat ich die Tscheyalpe – eine grüne Oase mit Kühen, die offenbar das Bedürfnis nach Gesellschaft hatten. Neugierig wie Touristen an einem fremden Buffet trotteten sie mir hinterher, mal bedrohlich nah, mal nur mit Abstand. Wenn ich anhielt, hielten sie auch. Vielleicht lag’s am Rucksack, vielleicht am Geruch – man entwickelt ja durchaus eine gewisse olfaktorische Aura nach ein paar Tagen on tour.

Weiter oben, am sogenannten Schwarzboden, überquerte ich über einen schmalen Steg erneut den Bach. Hier stand das letzte Hinweisschild – ein leises „Leb wohl“ der markierten Wege. Es zeigte scharf rechts Richtung Tscheyjoch und geradeaus Richtung Seekarjoch. Ich ging geradeaus, aber mein Ziel war das Tscheyer Schartl – eine versteckte Lücke im Grat, keine 100 Höhenmeter unterhalb von 2800. Die Ähnlichkeit der Namen ist irreführend: Tscheyjoch war tabu, ich wollte hoch und dann später Richtung Süden raus.

Ich hielt mich weiter am Bachlauf, der sich durch ein zunehmend blockiges Gelände zog. Zunächst halfen vereinzelte Markierungen bei der Orientierung – rote Sprenkel auf Felsbrocken, die wie vergessene Kunstwerke wirkten.

Doch bald verabschiedeten sich auch diese, und ich war auf mich allein gestellt. Kein Problem – GPS an, Kopf aus, Füße arbeiten lassen. Der Weg bestand jetzt aus Geröll, Schneefeldern und immer wieder kleinen Kletterpassagen. Hauptsache: rechts vom Bach bleiben und aufsteigen.

Auf etwa 2600 Metern kam die entscheidende Abzweigung: Der Weg zum Seekarjoch ginge geradeaus, ich musste rechts – hoch über einen steilen Geröllhang zum Schartl. “Weg” ist hier ein großzügiger Begriff. Es ging eher um eine kreative Linienwahl in losem Gestein, bei der jeder Tritt zum Test wurde. Dazu gesellte sich ein unangenehm kalter Wind, der mich zwang, ein Halstuch überzuziehen, um dem Kratzen im Hals zuvorzukommen. Irgendwann entdeckte ich sogar wieder eine Markierung – schräg über mir. Offenbar hatte ich den eigentlichen Pfad verfehlt. Geschenkt – mein Ziel war greifbar.

Oben, am Tscheyer Schartl auf 2800 m, öffnete sich die Aussicht dramatisch. Schroffe Grate, tiefe Täler, die Andeutung von Gletschern – eine Kulisse, für die sich jeder Schritt gelohnt hatte. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, lang verweilen war keine Option. Ich begann den Abstieg.

Als ich ein Stück weiter gewandert war, musterte ich die Nordhänge zum Planeiler Schartl und zur Freibrunner Spitze – komplett unter Schnee. Mein ursprünglicher Plan: via Planeiler Schartl zur Freibrunner Spitze und dann über das Matscher Jöchl hinab. Angesichts der Schneelage? Unrealistisch. Und ehrlich gesagt auch ein bisschen selbstmörderisch. Also Planänderung. Die finale Etappe ins Schnalstal, das Ziel meiner Alpenüberquerung, war damit gestorben. Stattdessen: vernünftig bleiben, Knie schonen, Rückreise einleiten.

Denn ja, das Knie – das rechte – meldete sich beim Abstieg schmerzhaft zu Wort. Wahrscheinlich hatte ich es beim Vortagesabstieg nach Pfunds überbeansprucht. Und obwohl die Wanderstöcke halfen, war klar: Lange Abwärtspassagen sind der natürliche Feind des Kniegelenks.
Der Weg nach Melag zog sich – in weiten Serpentinen mit einigen lästigen Gegenanstiegen. Ab ca. 2200 m nahm die Vegetation wieder zu, und ich passierte ein paar Lawinenverbauungen. Dann ging’s steil hinunter ins Tal.

Unten angekommen: Pause. Durchatmen. Realisieren. Das war’s. Ich buchte mir ein Zimmer, pflegte mein Knie, stillte meinen Hunger, ließ mich im Wellnessbereich durchkneten – und versank schließlich in einem weichen Bett. Letzter Abend der Tour. Immerhin: stilvoller Abgang.

Zwei kurze Anrufe später war auch das Vorziehen der Übernachtung in Meran und der Rückreise erledigt. Von Melag brachte mich der Bus nach Mals, von dort tuckerte mich die Bahn entspannt nach Meran. Noch eine Nacht in der Jugendherberge, dann: 4:30 Uhr morgens Abfahrt im Reisebus Richtung München.
Die Alpenüberquerung war anders verlaufen als geplant. Aber genau deshalb war sie perfekt. Einsamkeit, Hochgebirge, Herausforderungen, Ausblicke – all das, was ich gesucht hatte, war da. Ob ich so etwas nochmal mache? Vielleicht. Nur mit weniger Abstieg. Besser geplanten Etappen. Und geübteren Knien.

Ein paar Worte zur Ausrüstung:
Was mich zuverlässig begleitet hat: meine faltbaren Carbon-Wanderstöcke (Leki Micro Vario Carbon). Leicht, stabil, effizient. Sie haben beim Aufstieg für Schub gesorgt, beim Abstieg für Schonung. Und sie haben alles überlebt – auch, wenn ich sie gelegentlich wie ein Stativ belastet habe. Gummipuffer unten dran – damit läuft man wie ein Luchs auf Samtpfoten.
Mein breitkrempiger Hut (The Real Deal Brazil Trap Hat) war mehr als nur Kopfbedeckung: Er war Regenschutz, Sonnenschutz, Nackenschutz – und ein stilistischer Fauxpas. Dennoch robust, faltbar, unzerstörbar. Ohne Kopfbedeckung ins Hochgebirge? Niemals.
Ich wurde übrigens mehrmals gefragt, was der Aufdruck "RMA" bedeutet. Keine Ahnung. Der Hut wurde aus einer alten südamerikanischen LKW-Plane gefertigt. Vielleicht "Rettet meinen Arsch"?
GPS (Garmin eTrex 20): Wenn man sich in Pfad-freien Zonen bewegt, ist ein Navi Gold wert. Meine Tour wäre ohne das Teil mehrfach in Orientierungsfrust geendet. Vorausgesetzt: man plant vorher gründlich und lädt sich gutes Kartenmaterial wie die OpenVeloMap.
Meine Regenjacke (Gonso Azoren)? Leider ein Reinfall. Nicht dicht. Aber wenigstens winddicht – und das reicht manchmal. Besser wäre natürlich ein vorheriger Test gewesen. Ich weiß das, ich hab’s ignoriert.
Dafür war die Regenhose (Vaude Steam) ein Volltreffer. Wasserdicht, leicht, sogar fahrradtauglich – so muss das sein. Die Wanderhose (Vaude Farley Zip-Off Pants) war ein ebenfalls zuverlässiger Begleiter: bequem, wandelbar, schnell trocknend. Ohne Fehl und Tadel. Wenn auch modisch nicht der letzte Schrei.
Die Schuhe: Lowa-Stiefel, perfekt eingelaufen, trocken geblieben, blasenfrei. Allerdings ziemlich schwer und klobig. Zukünftig werde ich auf leichteres Schuhwerk bauen. Zusammen mit meinen Smartwool-Socken ein Dream-Team. Merino wirkt Wunder, besonders bei langen Etappen. Zwei Paar reichen völlig.
Der Rucksack (Ortlieb Packman Pro2): wasserdicht, stabil, bequem – und mit 20 Litern überraschend geräumig. Für Tarp, Matte und Schlafsack, die ich nie gebraucht habe, war dennoch Platz. Ein Trinksystem werde ich mir noch zulegen – der passende Anschluss ist vorhanden.
Meine Biwakausrüstung war am Ende unnötiger Ballast. Anfangs war das Wetter mies, später siegte die Bequemlichkeit im Tal. Und dort zu biwakieren wäre nicht einmal besonders romantisch gewesen.
Fazit: Viel gelernt, viel erlebt – und einiges, was ich beim nächsten Mal anders packen würde. Aber so ist das mit Abenteuern: Sie leben von der Improvisation. Und davon, dass nicht alles nach Plan läuft.
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