Alpencross 2015 - Tag 1
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Füssen - Plansee - Heiterwang - Lermoos - Ehrwald - Fernstein
Länge: 65 km
Steigung: 1500 Hm
Der „Retro-Cross 2015“ war gestartet! Der Plan: Mit einem restaurierten Stahlross aus dem Jahr 1991 – ohne Federung, ohne Komfort, aber mit viel Herz – die Alpen überqueren. Die letzten Wochen hatten sich mit einer andauernden Hitzewelle geradezu perfekt für ein ambitioniertes Bikeprojekt präsentiert. Nun stand meine Tour endlich an, und ich hoffte, dass das sommerliche Hoch noch ein paar Tage durchhalten würde. Ein kleines Tiefdruckgebiet sollte am Folgetag die Nordalpen streifen, aber die Prognosen waren optimistisch. Es konnte also losgehen.
Das Bike selbst war ein echtes Relikt: Stahlrahmen, Starrgabel, Cantileverbremsen, 14 Gänge (nach einem freiwilligen Downgrade meinerseits) und Riemenpedale – ein fahrendes Denkmal der frühen 90er. Die Investition: 300 Euro, viele Stunden Schrauberei und der feste Glaube daran, dass man nicht zwingend ein fünfstelliges Fully braucht, um ein alpines Abenteuer zu erleben. Besonders stolz war ich auf meine Reifenwahl: vorne ein voluminöser Schwalbe Hans Dampf in 2,5”, hinten ein schlanker Rocket Ron in 2,1”, der gerade so durch den schmalen Hinterbau passte. Für Nostalgiker mag das wie ein Widerspruch wirken – aber in der Praxis zählte jeder Millimeter Gummi.
Natürlich hatte ich das gute Stück vorab ein wenig ausgeführt. Und ja – dabei kamen mir ernsthafte Zweifel. Und nicht nur mir. Leser meines Blogs fragten sich offen, warum man sich das freiwillig antun wolle. Ohne Federung durch alpines Gelände? Über den Venter Höhenweg? Das Niederjoch? Tarscher Joch? Tremalzo? Viel Spaß – sagte man. Aber genau darum ging es ja: Was braucht man wirklich? Und was ist bloß Komfortzone?
Die Ausrüstung wurde - wie jedes Jahr - wieder ein wenig optimiert. Viel Verbesserungspotential gab es jedoch nicht, das meiste hatte sich bewährt. Hinzu kamen ein paar Aluheringe. Eine neue Kamera ebenfalls: Die Sony RX100 Kompaktkamera, die hochwertige Foto- und Videoaufnahmen versprach.

Mit diesen Gedanken und einer Mischung aus Vorfreude, Respekt und einem Hauch masochistischer Neugier saß ich im Zug nach Füssen. Meine Sitznachbarn – zwei voll ausgestattete Alpencrosser mit High-End-Bikes – warfen mir mitleidige Blicke zu. Verständlich. Mein Bike sah eher aus wie ein Beitrag zur Rubrik „Kurioses aus dem Radkeller“ als wie ein ernsthafter Transalp-Kandidat.
Dann musste der Zug spontan in Buchloe stoppen. Ein jugendlicher Schwarzfahrer hatte beschlossen, sich als zahnlose Rebellengestalt in Szene zu setzen und weigerte sich, dem Schaffner Auskunft zu geben. Nach 30 Minuten Wartezeit wurde er unter Polizeibegleitung entfernt – nicht ohne noch ein paar Beleidigungen im Abteil zu verteilen. Ich hatte mich innerlich schon darauf eingestellt, ihm im Ernstfall ein bisschen Anstand beizubringen, aber so weit kam es zum Glück nicht.

Nach dem Umstieg in Buchloe kam ich am späten Vormittag in Füssen an. Die Sonne lachte vom Himmel, ich rollte vom Bahnhof los – erster Pedaltritt, erster Atemzug Freiheit.

Auf vertrauter Route ging’s über Hohenschwangau in Richtung Pöllatschlucht – vorbei am firsch renovierten Schloss Neuschwanstein, diesem steingewordenen Traum Ludwigs II., der sich sein Märchenschloss bekanntlich nie wirklich gönnen konnte. Ein schöner Reminder, dass man seine Abenteuer nicht auf später verschieben sollte.

Ich wollte wieder - genau wie in 2010 - durch die Pöllatschlucht. Doch am Eingang dann der erste Dämpfer: Die Schlucht war wegen Bauarbeiten gesperrt. Stattdessen musste ich über die Neuschwansteinstraße ausweichen – vorbei an Pferdekutschen, asiatischen Touristengruppen und einem Slalom-Parcours aus Selfiesticks und frischen Rosinentalern. Mein Auftritt auf dem Rad wurde mit unerwarteter Begeisterung quittiert – vom staunenden Applaus bis zum spontanen Fotoshooting durch japanische Reisegruppen. Wenn die wüssten, dass mein „Wettkampf“ gerade erst begonnen hatte...

Immerhin: die Umleitung brachte mich direkt ans Eingangstor von Schloss Neuschwanstein – aus dieser Nähe hatte ich das Kitsch-Konstrukt des Kini noch nie gesehen.

Kurze Zeit später: Postkartenblick vom Aussichtspunkt auf Hohenschwangau und Alpsee. Könnte schlechter losgehen.

Der Anstieg zur Bleckenau verlief über eine einsame Asphaltstraße – kein Verkehr, nur stetige Steigung. Schweiß, Atem, Rucksack. Die Schotterpiste entlang der Pöllat war sehr gut zu fahren, die alpine Umgebung voller romantischer Natur. Auf diesem Weg erreichte ich bald die Jägerhütte.

Ich legte keine Pause ein, sondern stürzte mich sofort hinein in den Schützensteig. Dort zeigte sich zum ersten Mal, was es heißt, mit Starrgabel und schwerem Rucksack über Wurzeln und Fels zu rütteln. Konzentration war Pflicht. Komfort: Fehlanzeige. Mein Körper wurde durchgeschüttelt wie ein Ziegelstein in der Waschmaschine. Ein erster kleiner Ausblick auf das, was mir noch bevorstand.

Am unteren Ende des Steigs sollte man klug sein und den parallel verlaufenden Karrenweg nehmen – die Hauptstraße ist ein Tummelplatz für röhrende Motorräder und rasende Autos. Der Karrenweg endet irgendwann, dann muss man auf Asphalt bis zum Plansee abrollen. Die Aussicht und die frische Brise machen das halbwegs erträglich.

Der offizielle Weg führt am Nordufer des Plansees weiter entlang der stark befahrenen Straße. Kein vernünftiger Radfahrer (mit Ausnahme vielleicht einiger hartgesottener Rennradfahrer) kann Lust darauf haben, sich diesem Wahnsinn freiwillig auszusetzen. Allein der brüllende Lärm der Motorräder schallte über den ganzen See. Das war auch der Grund dafür, dass ich das Bikeverbotsschild am Südufer des Sees übersah und dem dort verlaufenden wildromantischen Wanderweg folgte. Der Pfad schlängelt sich stets am Ufer hin, es gibt ab und zu kurze Gegenanstiege, auch mal das ein oder andere kurze Tragestück, sowie einige Spaziergänger, die man unbedingt rücksichstvoll vorbeilassen oder überholen sollte. Von diesen kleinen Hindernissen abgesehen ist er aber wunderschön zu fahren und ich ließ es mir nicht nehmen, unterwegs in die erfrischenden Fluten zu tauchen. Hygienetechnisch war die Aktion natürlich völlig obsolet, weil ich heute meine Bike-Klamotten noch oft genug vollschwitzen würde.

Nach dem Heiterwanger See führte mich ein Schotterweg durch Bichlbach und Lermoos. Mittags suchte ich mir ein schattiges Plätzchen und gönnte mir eine ausgedehnte Pause. In Lermoos füllte ich an einem Brunnen meine Wasservorräte auf – dieses Jahr mit Trinksystem, 2-Liter-Beutel plus Reserve im Rucksack. Vier Liter erschienen mir bei der Hitze als Minimum.

Bei Ehrwald ging es durch lichten Lärchenwald, dann nochmals 150 Höhenmeter bergauf. Nach einem kurzen Trailstück bei Biberwier kam ich am Ortsrand bei einem schicken Hotel wieder raus. Der nächste Anstieg führte zum Weißensee – und weiter auf der historischen Via Claudia Augusta.

Irgendwo zwischen Staub, Schotter und Sonne passierte es dann: ein plötzlicher, stechender Wadenkrampf, der mich jäh aus dem Sattel holte. Ich krümmte mich am Boden, fluchend, die Zähne zusammenbeißend. Glücklicherweise kein Muskelfaserriss – nur ein saftiger Warnschuss des Körpers. Ein paar Dehnübungen, Magnesiumtablette, vorsichtiger Testtritt – es ging wieder. Das war Knapp.
Über eine breite Forststraße sauste ich hinunter bis zum Fernpass – von dort setzte ich auf einem schmalen Pfad die Abfahrt fort. Früher war das mal ein Trail mit Charakter. Heute? Totalsaniert, aufgeschottert, glattgebügelt. Man wollte den Tourenradlern wohl einen Gefallen tun. Ich trauerte der alten Strecke ein wenig nach. Unterwegs hielt ich ab und zu Ausschau, ob nicht irgendwo ein Garmin eTrex Legend im Gebüsch lag. ;-)
Ich rollte unter dem Schlösschen hindurch, quetschte mich über den Campingplatz und bog dann ab ins Tegestal.

Mein geheimer Biwakplatz war noch da. Eine kleine, versteckte Lichtung am Bach. Ich spannte mein Tarp, wusch mir im Tegesbach den Tag vom Körper, und ließ mich dann wohlig erschöpft in meinen Schlafsack sinken.

Unter der Plane liegend ließ ich den Tag revue passieren, der mit Ausnahme meines Wadenkrampfes ziemlich gut gelaufen war, und stellte mich mental auf die bevorstehende Etappe ein. Morgen sollte es hinein ins Ötztal gehen. Und dann würde es ernst werden. Am späten Abend begann es dann immer stärker zu regnen, doch mein Tarp sorgte dafür, dass ich nachts trocken blieb.
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