Alpencross 2015 - Tag 4
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Tarscher Alm - Tarscher Joch - Ultental - Rabbijoch - Mále - Dimaro - C. C. Magno
Länge: 70 km
Steigung: 2880 Hm
Die Nacht auf der Tarscher Alm war nur von einem einzigen, ohrenbetäubenden Donnerschlag unterbrochen, der wie aus dem Nichts durch mein Halbschlafbewusstsein fuhr. Später erfuhr ich, dass ein Blitz in die alte, stillgelegte Liftanlage oberhalb der Alm eingeschlagen hatte. Nicht zum ersten Mal, wie mir versichert wurde. Die Stahlkabel funktionieren bei Gewitter offenbar wie ein offenes Einladungsschild für Himmelsentladungen.
Das Frühstück war so reichhaltig wie ein bäuerlicher Sonntagsbrunch: Müsli, Brot, frische Butter, Schinken, Salami, Käse, Marmelade, dazu Milch direkt von der Alm.

Gestärkt, wenn auch etwas träge, brach ich gegen acht Uhr auf. Draußen waberte dichter Nebel über die Wiesen, während ich mein Rad mühsam den steilen Hang Richtung Tarscher Joch hochschob. Noch gut 600 Höhenmeter lagen vor mir und mein Körper sendete Signale der Müdigkeit. Ob ich es heute wirklich bis ins Ultental schaffen würde, erschien mir in diesem Moment fraglich.

Etwa auf halber Höhe wurde der Weg felsig und technischer, und ich musste das Bike immer wieder schultern, um über die groben Blöcke hinwegzukommen. Nach und nach fand ich jedoch meinen Rhythmus, das befreiende Wiedererstarken meines Körpers setzte ein. Die Sonne stach gelegentlich mit ein paar schüchternen Strahlen durch den Hochnebel, doch insgesamt blieb das Wetter diesig und feuchtwarm. Ich war allein unterwegs, niemand sonst war auf diesem Abschnitt zu sehen.

Nach einer letzten Kraxelei stand ich endlich am Kreuz des Tarscher Joches und konnte mir einen Triumphschrei nicht verkneifen. Langsam zeigte sich das Blau des bewölkten Himmels. Sollte das Wetter heute doch noch besser werden?

Hinter dem Joch folgte noch ein kurzer Anstieg zum eigentlichen Tarscher Pass auf 2530 m, bevor eine der ruppigsten Abfahrten meiner gesamten Transalp auf mich wartete. Kurz, aber giftig. Ich legte eine ausgiebige Pause ein, streckte mich ins Gras, atmete durch. Hier oben musste ich fit und wach sein.

Ob meine Erinnerung trüb war oder der Weg tatsächlich gelitten hatte – der Trail zur Kuppelwieser Alm war in deutlich schlechterem Zustand als 2010. Viel losem Geröll, ausgespülte Passagen, verschüttete Kehren. Trotz allem konnte ich ungefähr die Hälfte der Strecke fahrend meistern. "Stolperbiken" trifft es wohl am besten. Ein älteres Ehepaar, das mir entgegenkam, zeigte sich tief beeindruckt ob meiner unbeirrten Fahrweise und wünschte mir eine verletzungsfreie Weiterfahrt. Ich nahm das als gutes Omen und erreichte bald die Forststraße, die in drei angenehmen Kehren zur Alm hinunterführt.

An der Kuppelwieser Alm musste ich mich erst einmal kurz orientieren. Im Hof zweigte ein schmaler Trail ab, der den Forstweg zur Steinrast Alm ersetzt und nicht nur abwechslungsreicher, sondern auch weitaus schöner zu fahren ist.

Dem Trail folgte ich bei gutem Fahrspaß rund einen Kilometer, bis er auf der asphaltierten Straße endete, die von der Kuppelwieser Alm hinunter führte.

Rund 800 m weiter erreicht man die Steinrast Alm. Dort bog ich rechts durch ein Gatter auf einen Waldweg Richtung St. Moritz ab.

Über etwa 3 km sorgte der einfache Trail mit paar kleineren Gegenanstiegen für Abwechslung, bevor ich in bei St. Moritz ankam. Von hier aus war ein Plan: Die Hauptstraße möglichst meiden und auf dem Ultener Höfeweg das Tal hochradeln.

Der Einstieg in den Höfeweg war auf Anhieb nicht leicht zu finden, doch auf der Karte war er zum Glück verzeichnet. Der Weg führte durch pittoreske Bergbauernhöfe, meist fahrbar und landschaftlich ein Genuss. Kurz vor St. Nikolaus verlor ich jedoch den Abzweig in den Wald aus den Augen und schlug mich eine halbe Stunde lang durch steiles Unterholz, bis ich über eine Almwiese ins Dorf einrollte. Da ich heute noch über das Rabbijoch wollte, schenkte ich mir weitere Experimente mit der unzuverlässigen Wegführung und rollte zähneknirschend auf der Straße weiter nach St. Gertraud.

In St. Gertraud begann der Aufstieg zum Rabbijoch. Die Forststraße bis zur Kirchbergalm zog sich gleichmäßig über etwa fünf Kilometer bergauf und war gut fahrbar. Auf Höhe des Nagelsteins zog ein Gewitter auf: dumpfes Grollen, zuckende Blitze – doch der Regen blieb aus. Ich erreichte die Kirchbergalm trocken, beobachtete eine Weile das Wetter und entschloss mich dann, weiterzuziehen.

Ab hier wurde es steil. Der Weg war größtenteils nicht mehr fahrbar und ich schob mein Bike Schritt für Schritt durch die zunehmend rauere Landschaft. Vor der unbewirtschafteten Bärhappalm klarte es dann plötzlich auf, die Sonne zeigte sich und die dunklen Wolken verzogen sich – das Gewitter hatte mich verschont. Die letzten Höhenmeter bis zu den markanten Steinmandeln am Grat erforderten nochmal Tragen, doch dann war das Ziel greifbar: Das Rabbijoch auf 2460 m.

Ein paar Wanderer oben am Joch schenkten meinem roten Starrgabel-Bike bewundernde Blicke und wünschten mir alles Gute für die Abfahrt. Ich war erschöpft, aber glücklich.

Unterhalb des Passes lag die Haselgruber Hütte, von wo sich ein schmaler Trail kilometerlang am Hang entlangzog. Mit einem Fully wäre es ein Genuss gewesen, doch mein Retro-Bike machte daraus ein Ganzkörpertraining. Immer wieder wurde der Flow von Steinbrocken unterbrochen, die Felgen wurden so heiß, dass ich sie unterwegs in einem Bach und später an zwei Brunnen abkühlen musste, um Plattfüße zu vermeiden.

Schließlich kam ich in Piazzola an. Die nächsten Kilometer durchs Rabbital nach Malé waren reiner Asphaltrausch: Mit über 70 km/h schoss ich bergab. In Malé füllte ich an einem Brunnen meine Trinkflaschen auf und kam ins Gespräch mit einer Gruppe österreichischer Mountainbiker, die ebenfalls übers Rabbijoch gekommen waren und sich in einer benachbarten Pizzeria einquartiert hatten. Ich überlegte kurz, ob ich mich dazugesellen sollte – aber der Radweg rief.

Weiter ging es nach Dimaro, wo ich völlig entkräftet erneut an einem Brunnen Halt machte, den Kopf unter das kühle Nass hielt und einen weiteren Liter Wasser trank. Vielleicht der siebte des Tages. Nach kurzem Aufleben und einem Müsliriegel bog ich auf den Dolomiti di Brenta Bike Trail ein, der 800 Höhenmeter durch dichten Wald bis Campo Carlo Magno versprach.

Die geplante Route war jedoch gesperrt. Die Umleitung führte über den steileren Brenta Trek-Wanderweg. Schiebend, schwitzend und von Mücken verfolgt schleppte ich mich durch einen gnadenlos steilen, dichten Urwald. Der Boden war steinig, verwurzelt, das Gelände fürs Biwakieren ungeeignet. Als mich dann auch noch zwei italienische Carbon-Biker in knallbuntem Feierabend-Outfit mühelos überholten, war der mentale Tiefpunkt erreicht.

Ohne Kraft für Fotos oder Videos marschierte ich im Halbdunkel weiter. Kurz vor Campo Carlo Magno rollte ich zehn Meter in die Büsche, warf meine Isomatte auf einen halbwegs ebenen Fleck und fiel in den Schlafsack. Nicht der Kälte wegen – nur zum Schutz vor Moskitos. Schlaf folgte sofort.
Dies war die längste und härteste Alpencross-Etappe, die ich jemals gefahren war.