Alpencross 2015 - Tag 5
[Etappe 1] [Etappe 2] [Etappe 3] [Etappe 4] [Etappe 5] [Etappe 6]Etappe 5
Campo Carlo Magno - Madonna di Campiglio - Tione - Bocca Giumella - Tiarno di Sopra
Länge: 65 km
Steigung: 1680 Hm
Die Nacht war anfangs etwas unruhig – nicht etwa wegen Kälte oder Lärm, sondern wegen der stechlustigen Plagegeister, die sich offensichtlich in meinem Gesicht und auf meinen Unterarmen ein abendliches Blutbuffet erhofften. Erst gegen Mitternacht gaben die Moskitos endlich Ruhe, und ich konnte bis kurz vor sechs durchschlafen. Erstaunlich erholt rollte ich aus dem Schlafsack, packte meine Siebensachen zusammen und setzte meine Reise fort – wie so oft, ohne zu wissen, was der Tag bringen würde.
Schon wenig später rollte ich in das noch schlafende Madonna di Campiglio ein, jenen mondänen italienischen Skiort mit Hotelklötzen, Liftanlagen und Designerboutiquen, wie man sie im Trentino zur Genüge kennt. Um diese frühe Uhrzeit lag jedoch noch eine seltsame Stille über dem Ort. Kein Mensch war unterwegs, kein Bus, kein hupendes Auto – nur das leise Surren meiner Kette.

Am südlichen Ortsende, dort wo die Via Mandron ausläuft, zweigt ein unscheinbarer Wanderweg nach rechts ab und führt in mehreren Kehren bergab in den Wald. Ein herrlich abwechslungsreicher Mix aus Forstweg und Trail, technisch nicht übermäßig schwer, aber mit ein paar knackigen Stellen. Schon nach kurzer Zeit erreicht man eine weitere Abzweigung, wo ein kleines Schild den Weg Richtung S. Antonio di Mavignola weist – ein absolutes Muss für alle, die auf schöne, schattige Trails stehen.

Es folgt ein flowiger, verspielter Waldweg, durchzogen von wurzeligen Rampen, steilen Abfahrten und ein paar trickreichen Passagen. Für Fully-Fahrer ein Spielplatz, für Starrgabel-Fahrer wie mich eher ein Balanceakt mit Trainingscharakter – aber Spaß hat’s trotzdem gemacht.

Der Trail endete schließlich auf einer breiten Forststraße, von der aus man direkt zum Passo Bregn de l’Ors hätte aufsteigen können. Doch nach den zurückliegenden Hammeretappen war meine Abenteuerlust heute eher auf Standgas. Statt mich erneut auf eine Bergprüfung einzulassen, blieb ich auf der Nebenmstraße und rollte entspannt nach S. Antonio di Mavignola.
Doch dann wurde ich jäh aus meiner Entspannung gerissen: Nur wenige Meter vor mir hatte ein Autofahrer einen italienischen Rennradler beim Überholen touchiert – der Mann lag reglos auf der Straße, Blut lief ihm aus einer Platzwunde am Kopf. Kein Helm. Ich war einer der ersten am Unfallort, doch es waren schon andere Helfer vor mir da. Es gab nichts, was ich sinnvoll hätte beitragen können. Als ich wenig später die Sirenen des heraneilenden Rettungswagens hörte, fuhr ich weiter – still, bedrückt, mit dem dumpfen Gefühl, Zeuge der Schattenseite dieses Sports geworden zu sein.
Meine Gedanken kreisten noch lange um den Unfall. Warum fahren so viele Rennradler trotz der chaotischen Verkehrslage ohne Helm? Warum setzen sich so viele diesem täglichen Wahnsinn auf den Straßen aus, wo tonnenschwere Blechkisten mit einem Meter Abstand an einem vorbeipreschen, als wäre man ein Verkehrshindernis statt ein gleichwertiger Verkehrsteilnehmer? Ich für meinen Teil hatte mir einmal mehr geschworen: Straße nur dann, wenn es gar nicht anders geht. Dies entsprach auch meiner ausgetüftelten Routenplanung, denn von Mavignola würde ich 35 km weit über Tione di Trento bis zum nächsten Passanstieg bei Roncone die Hauptverkehrsstraße komplett vermeiden.
Von Mavignola ging es in daher einer kurzen, aber anspruchsvollen Trailabfahrt ins Sarcatal. Unten angekommen, folgte ich dem bestens ausgebauten Radweg entlang der Sarca nach Pinzolo und weiter über Spiazzo bis Tione di Trento. Das Tal trägt nicht ohne Grund den Namen „Val di Sole“ – die Sonne knallte erbarmungslos vom Himmel, das Thermometer zeigte 39,8 °C. Nur gut, dass entlang des Radwegs eine Vielzahl öffentlicher Trinkwasserbrunnen installiert war – EU-gefördert und Gold wert. In dieser Gegend hatte ich selten mehr als zwei Liter Wasser gleichzeitig dabei, weil die Versorgung einfach vorbildlich war – ganz im Gegensatz zu vielen höhergelegenen Almen, wo man oft auf den letzten Tropfen angewiesen ist.

In Tione endete der Radweg erst einmal. Um die gefährlich stark befahrene Hauptstraße zu umgehen, bog ich bei Bolbeno auf ein kleines Asphaltsträßchen ab, das sich in engen Kehren bergauf wand. Die Straße war fast verkehrsfrei, die Hitze dafür brutal. Der Asphalt ging bald in eine Forststraße über. Dann wurde es abenteuerlich: Mein Track führte mich auf einen zugewachsenen, fast unsichtbaren Pfad, der sich zu meiner Überraschung als echter Trail-Geheimtipp entpuppte.

Über Holzstege, Wurzelpfade, eine Hängebrücke und sogar ein paar ruppige Stufensegmente führte mich der Weg durch ein zauberhaftes Flusstal bis nach Bondo. Am Ende des Trails prangte ein großes Schild mit der Aufschrift „Progetto – Storia e vita di un torrente“ – das passte, denn lebendig war dieser Weg allemal gewesen.

In Bondo stieß ich wieder auf den Radweg. Es ging rasant hinab, vorbei an Roncone bis nach Lardaro, wo ich die Hauptstraße verließ und auf ein unscheinbares Sträßchen einschwenkte, das sich in zahllosen Serpentinen die nächsten 500 Höhenmeter nach oben wand. Vorbei an den Weilern Cariola und Deserta – Ansammlungen typisch italienischer Wochenendhäuschen, in denen sich stadtmüde Großstädter zur Erholung niederlassen.

Der Weg führte meist durch den Wald, was mich zumindest etwas vor der gleißenden Sonne schützte. Dennoch verlor ich bei der brutalen Hitze Liter um Liter an Schweiß. In Deserta wusste ich dank OpenStreetMap, dass es einen Brunnen gab – zum Glück, denn ich hatte sämtliches Trinkwasser aufgebraucht.

Der Weg wurde ruppiger, ging in Schotter über und endete schließlich knapp unterhalb der Malga Ringia in einem steilen Karrenweg. Dort hieß es: Rad schultern und kämpfen. Die nächsten 100 Höhenmeter hatte ich nicht erwartet – ein schmaler, felsiger Pfad, der sich gnadenlos nach oben wand. Ich war kurz frustriert, doch das verflog schnell, als ich merkte, dass das Gröbste geschafft war.

Es folgte ein eigenwilliger Abschnitt: Ein verwachsener, teils abgerutschter und von umgestürzten Bäumen blockierter Trail, der unter normalen Umständen gut fahrbar gewesen wäre. Nach einem halben Kilometer war auch dieses Hindernis überwunden und ich konnte endlich auf einem flowigen Waldtrail Fahrt aufnehmen. Es ging mit ein paar Gegenanstiegen flott dahin – ein echter Genussabschnitt, der schließlich in einer kleinen Lichtung mit Wegweisern endete.

Von hier rauschte ich in hohem Tempo weiter bis zum Bocca Giumella – alles tief im Wald, ohne auch nur einen Hauch Panorama, aber dennoch herrlich. Eigentlich hatte ich geplant, weiter über den Kamm zum Passo di Giovo, Passo di Rango und zur Cima Borei zu fahren – eine großartige Route. Doch meine Beine sagten klar: Heute nicht. Also entschied ich mich für den direkten Abstieg nach Tiarno. Leider bedeutete das, sämtliche hart erarbeiteten Höhenmeter auf einer steilen Beton- und Asphaltpiste zu vernichten. Die Felgen liefen heiß – regelmäßig musste ich Wasser aus meinem Trinkvorrat opfern, um die Aluminiumflanken zu kühlen.

Unten in Tiarno di Sopra angekommen hatte ich genug. Ich suchte mir eine einfache Pension und gönnte mir ein Abendessen, das diesen harten Tag würdig beendete: die besten Gnocchi meines Lebens – dampfend, zart, in Salbeibutter gebraten. Ein würdiger Abschluss für einen Tag voller Kontraste, Kurven und kleiner Wunder.
[Etappe 1] [Etappe 2] [Etappe 3] [Etappe 4] [Etappe 5] [Etappe 6]