Alpencross 2017 - Tag 4
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Sulden - Madritschjoch - Zufallhütte - Latsch - Naturns - Meran
Länge: 71 km
Gesamtanstieg: 900 Hm
Gesamtabstieg: 4040 Hm
Eigentlich sollte heute schon gestern gewesen sein. Denn laut Plan wären wir gestern über das Madritschjoch marschiert – doch der Wettergott hatte andere Pläne. Strömender Regen, null Sicht, die Wolken hingen bis ins Tal und machten jede Ambition auf einen alpinen Übergang jenseits der 3000er-Marke zunichte. Nach langem Hin und Her und mehreren Tassen Tee entschied ich: Wir bleiben. Einen Tag aussitzen, das Madritschjoch nicht riskieren, sondern bei gutem Wetter nachholen. Den verlorenen Tag würden wir im Flachland aufholen – mit einem Zug von Meran nach Auer. Eine akzeptable Lösung, schließlich ist der Radweg durchs Etschtal landschaftlich so spannend wie ein Fernsehgarten-Spezial.
Wir verbrachten den Regentag mit Lesen, Videos, Game of Bike vor der Pension und WLAN-gestütztem Ausruhen. Für den Körper ein Ruhetag, für die Nerven eine Wohltat. Und siehe da – Tag 5 (unser Reisetag Nummer 4) begann wie bestellt: strahlend blauer Himmel über Sulden, frische Bergluft, ein Hauch von Aufbruch.

Nach dem Frühstück rollten wir zur Seilbahn, die uns zur Schaubachhütte auf 2550 m brachte. Die Fahrt war ein visuelles Spektakel: zerklüftete Felswände, Gletscherzungen, Schneereste und Geröll – wie ein Naturfilm aus der Gondel. Mein Sohn war sofort fasziniert – das hier war nicht mehr Bergidylle mit Kuhglocken, sondern raues Hochgebirge, steinig und unbarmherzig.

Oben angekommen, ging’s los: Wir bereiteten uns vor auf die 550 Höhenmeter Aufstieg zum Madritschjoch. Sobald die ersten Sonnenstrahlen über die Berggipfel leuchteten, wurde es zunehmend wärmer. Unsere Jacken konnten wir schon jetzt in den Rucksack packen.

Die ersten 200 Höhenmeter waren so steil, dass wir schieben mussten. Wir kämpften uns mutig durch eine marsähnliche Landschaft bergauf, das schroffe Ortler-Gebirge im Rücken.

Die Sonne brannte gnadenlos herab. So plötzlich, wie das gestrige Unwetter heraufgezogen war, so schnell hatte es sich wieder verzogen. Weiter schoben wir die Bikes Richtung Madritschhütte. Die letzten 500 Meter bis zur Hütte konnten wir sogar im Sattel absolvieren. Halbzeit bis zum Gipfel!

An der Hütte legten wir eine kleine Brotzeit-Pause ein und genossen die unfassbar schöne Aussicht.

Die Luft wurde merklich dünner, das Atmen schwerer. Ich erklärte kurz die physiologischen Hintergründe der Höhenkrankheit, die auf über 3000 m durchaus auftreten kann – besonders bei Ungeübten. Mein Sohn aber machte keine Anzeichen von Schwäche. Er schob, schwitze, keuchte – und grinste. Ein kleiner Alpencrosser mit großem Willen.

Die letzten Meter trugen wir sogar die Bikes. Eine Herausforderung für den 13-Jährigen, da das Gewicht des Fahrrades in einem ungünstigeren Verhältnis zur Körperkraft steht, als bei einem Erwachsenen. Respekt!

Gegen Mittag standen wir oben: 3110 m. Der höchste Punkt unserer gesamten Transalp. Und der höchste Punkt, auf dem mein Sohn je gestanden hatte. Der Moment war magisch: ein stilles Panorama aus Gletscherbergen, Felsgraten und der leichten Müdigkeit des Glücks. Die Temperaturen waren angenehm, kaum Wind, perfekte Bedingungen. Eine größere Wandergruppe kam von Westen, vier slowenische Mountainbiker von Süden. Dann legten wir die Protektoren an – Zeit für die Abfahrt.

Die ersten Meter waren unfahrbar: grobes Geröll, steile Kehren, rutschige Stufen. Doch dann wurde es flüssiger – und die Trailorgie begann. Mein Sohn stieg in den Sattel und fuhr los, als wäre er daheim im Bikepark. Spitzkehren, Blockstufen, Schotterfelder – alles souverän gemeistert. Die Abfahrt durchs Madritschtal ist ein ständiger Wechsel zwischen Flow und Herausforderung: mal Almweg, mal ausgesetzter Steig, dann wieder verblockter Naturtrail. Nur zwei Stellen zwangen uns zum Absteigen – ansonsten hieß es: fahren, was das Zeug hält.


In der Ferne lag die Zufallhütte – unser Zwischenziel. Davor wartete aber noch eine ruppige Schlusspassage aus losen Steinblöcken, technisch fordernd, aber machbar. Danach ein kurzer Gegenanstieg, dann standen wir auch schon vor der Hütte – aber Brotzeit? Fehlanzeige. Der Teenager war im Downhill-Modus und wollte weiter.

Also nahmen wir den Marteller Talweg in Angriff – eine fordernde Route, die uns zuerst zum Zufrittsee und dann weiter talwärts bringen sollte. Der Weg hatte es in sich: enge Kehren, Felskanten, Wurzeltreppen. Einmal wäre mein Sohn fast per Endo über den Lenker gegangen, als er eine Gegenstufe übersah – das Hinterrad stieg auf, aber er rettete sich mit einer artistischen Notlandung. Adrenalin pur.

Zwischen all den Trails und Turns tauchte plötzlich ein seltsamer Koloss im Wald auf: das verfallene Hotel Paradiso. 1935 als Luxusherberge erbaut, später von der Wehrmacht genutzt, heute eine Geisterruine mit morbidem Charme. Zwischen Efeu und bröckelndem Beton flackert noch die Erinnerung an eine Zeit, als hier die Mailänder Hautevolee Champagner schlürfte.

Gleich danach wird der Wanderweg wieder anspruchsvoll. Auf dem Trailabschnitt bis zum Zufrittsee konnten wir unsere Fahrtechnik gut zum Einsatz bringen. Der Sohn hatte wieder eine Menge Spaß dabei.

Weiter ging’s entlang des Zufrittsees, einem Stausee auf 1.850 Metern Höhe. Wir passierten den See auf einer Forststraße am Ostufer, wo wir am Ufer eine kleine Brotzeitpause einlegten.

Dann ging es flott auf der Straße bergab, bis wir kurz vor Waldheim wieder auf den Marteller Talweg wechselten. Der Weg wurde nun wilder, grüner, dichter. Anfangs rauschten wir noch an Gemüsefeldern vorbei, dann wurde der Bewuchs urwaldartig, fast tropisch. Der Trail war schmal, schnell, verwinkelt – ein herrlicher Rausch aus Geschwindigkeit und Präzision.
Vor Schloss Montani bogen wir auf einen alten Waalweg ein – ein historisches Bewässerungssystem der Südtiroler Bauern. Heute leider trocken, aber landschaftlich reizvoll. Bei der Ruine Obermontani endete der Weg abrupt an einem Zaun. Der Track auf dem Navi hatte wohl vergessen, dass Zäune real sind. Also Plan B: durch eine Apfelplantage schleichen und zurück auf den offiziellen Weg.

In Latsch schlossen wir die Trailkapitel des Tages ab und fuhren auf die Via Claudia Augusta ein. Es war 16 Uhr, und uns lagen noch 30 Kilometer Radweg bis Meran vor – bei Gegenwind. Und mein Sohn war zwar motiviert, aber der Sattel hatte mittlerweile bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Hitze drückte, die Beine wurden schwer, und die Kilometer zogen sich wie ein alter Kaugummi im Hochsommer. Trotzdem: kein Jammern, kein Streiken. Wir kämpften uns durch.

Kurz nach 18 Uhr erreichten wir Meran. Schnell Tickets gekauft – fünf Stück (zwei Personen, zwei Räder, ein Zuschlag), denn die italienische Bahn liebt Bürokratie fast so sehr wie Espresso. Dann in den Zug nach Bozen, dort umsteigen Richtung Verona, weiter nach Auer.

20 Minuten später stiegen wir in Auer aus. Noch zwei Kilometer bis zum Hotel, einchecken, duschen, runterkommen. Gegen 20 Uhr machten wir uns auf die Suche nach etwas Essbarem. Die Empfehlung der Rezeption entpuppte sich als gastronomischer Tiefpunkt – geschmacklos, lieblos, irgendwie traurig. Aber der Hunger war größer als der Anspruch, also passte das schon.
Das Höhenprofil des Tages sah zwar nach durchgehendem Gefälle aus – doch der Schein trügt. Die Abfahrt vom Madritschjoch kostet Kraft, Konzentration und Körperspannung. 2400 Tiefenmeter in anspruchsvollem Gelände sind kein Spaziergang – schon gar nicht mit einem Hardtail. Und dann noch 30 Kilometer Gegenwind bis Meran – das ging nicht spurlos vorbei. Aber genau deshalb bleiben solche Tage im Gedächtnis.
Highlights des Tages:
- Die Besteigung des Madritschjochs auf 3110 m – ein unvergesslicher Moment auf dem Dach der Tour
- Die Freeride-Abfahrt durchs Madritschtal und den oberen Marteller Talweg – episch, rau, technisch
Lowlights des Tages:
- Das miserable Essen in der seltsam traurigen Absteige „Ristorante Abram“