Alpencross 2013 - Tag 3
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Bad Gastein - Böckstein - Korntauern (Hoher Tauern) - Mallnitz
Länge: 20 km
Steigung: 1650 Hm
Die ganze Nacht über hatte der Regen auf mein Tarp geprasselt, doch mein minimalistisches Biwak hatte den Stresstest erstaunlich gut überstanden. Kein Tropfen war durchgedrungen, weder in die Ausrüstung noch zu mir. Am Morgen dann erste Lichtblicke: Die dichten Wolken begannen langsam aufzureißen, und ich stand – ausgeruht, halb motiviert, aber mit wachsender Ehrfurcht – am Fuß des Alpenhauptkamms. Vor mir lag der Korntauern, jener berüchtigte Übergang in den Hohen Tauern, der alles andere als eine Spazierfahrt versprach. Ich beschloss, mir für den Aufstieg genau die Zeit zu nehmen, die es eben brauchen würde – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Ein Radweg brachte mich von Bad Gastein nach Böckstein. Noch bevor die Sonne den Kampf gegen den Morgennebel aufnahm, überfiel ich die erste Bäckerei, die ich finden konnte, und füllte meine Taschen mit allem, was nach Kalorien roch. Frühstück und Mittagessen erledigte ich in einem einzigen, schamlosen Gelage – effizient wie immer.

Die kaum befahrene Straße führte mich schnurstracks zum Verladebahnhof, wo Autos und sogar Fahrräder durch den Tauerntunnel nach Mallnitz transportiert werden können. Eine verlockende Abkürzung, aber ich hatte andere Pläne. Statt in den Zug stieg ich auf einen schmalen Karrenweg, der mich in gemächlicher Steigung ins Anlauftal führte – ein stilles Tal, dessen Ruhe nur von meinen knirschenden Reifen und den ersten Murmeltierpfiffen durchbrochen wurde.

Nach Überquerung des Anlaufbaches wurde es ernst. Der sogenannte „Korntauernweg“, auch „Mindener Weg“, entpuppte sich als Relikt aus römischer Zeit. Straße? Eher ein gewundener Pfad durch steilstes Gelände, ein Puzzle aus Felsstufen, engen Kehren und Wurzelwerk. Ein Pferd, gar ein Wagen? Keine Chance. Selbst das Rad auf dem Rücken war oft eher Hindernis als Hilfe – zwischen den eng stehenden Bäumen blieb ich immer wieder hängen, und einige Stufen erforderten den vollen Einsatz beider Hände zum Hochziehen.

Langsam schraubte ich mich höher, hinein in die Kernzone des Nationalparks Hohe Tauern. Die Baumgrenze lag nun unter mir, doch der Steig blieb gnadenlos steil. Gewitter waren für den Nachmittag angesagt – keine sehr motivierende Perspektive. Mir saß der Respekt im Nacken und die Angst im Magen. Ein falscher Zeitplan konnte hier oben schnell existenziell werden. Also hielt ich unterwegs ständig Ausschau nach Notbiwakplätzen – etwas Windgeschütztes, möglichst mit Bäumen, fern von Steinschlagzonen, aber auch nicht zu exponiert.

Zwischendurch konnte ich das Rad mal ein paar Meter schieben, aber das war die Ausnahme. In einer kurzen Verschnaufpause dann der Schock: Mein Ortlieb-Rucksack, seit zwei Alpenüberquerungen treuer Begleiter, zeigte eine kapitale Schwachstelle. Der linke Träger war nahezu komplett abgerissen, der rechte bereits eingerissen. Katastrophe! Ohne funktionierenden Rucksack den Berg wieder runter? Ein vorzeitiges Tour-Aus?
Nein. Jetzt kam die Stunde der Kabelbinder. Mit dem Messer stach ich vorsichtig zwei kleine Löcher in den Träger, zog die Binder durch und fixierte das Ding notdürftig. Auch die andere Seite bekam eine ähnliche Notoperation. Ob das halten würde? Ich hatte keine Wahl. Es musste.

Und es hielt. Besser als erwartet. Besser als neu, um genau zu sein.
Der Nationalpark Hohe Tauern ist landschaftlich ein richtiges Highlight. Die rauhe Natur, der mit Moos bewachsene Fels, die schroffe Berglandschaft, die klare Luft - hier fühlt man sich in einer anderen Welt.

Auf etwa 2050 Metern erreichte ich schließlich eine kleine Hochebene, durchzogen von einem glasklaren Bach – ein Ort, an dem man verweilen möchte. Zwei Stunden lang. Mindestens. Aber das sich anbahnende Gewitter gab mir exakt null Spielraum. Also weiter. Über ein langgezogenes Schneefeld, nicht gefährlich, aber kräftezehrend. Ich war nah an der Grenze. Fahrradfahren trainiert viele Muskeln – aber nicht die fürs Tragen.

Es folgten weitere Schneefelder, dann felsige Abschnitte, dann verblocktes Geröll, das in loser Anordnung immerhin die vage Silhouette eines Weges erahnen ließ. Auf den Schneefeldern war mein GPS unbezahlbar – die Markierungen auf dem Fels waren oft nicht mehr zu erkennen. Die Aussicht hingegen war atemberaubend, und die Gewitterfront noch nicht in Sicht. Noch nicht.

Der Moment, in dem ich den Pass schließlich erreichte, war einer jener seltenen, in denen Euphorie und Erschöpfung eine seltsame Einheit bilden. Ich war durch. Im doppelten Sinne. Gerne hätte ich länger verweilt, aber jetzt hatten sich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben und gaben unmissverständlich zu verstehen: Zeit, weiterzugehen.

Der Abstieg zur Mittelstation der Ankogelbahn war technisch wie mental fordernd. Das Rad konnte nur in seltenen Fällen gerollt werden – meist war Tragen angesagt, über rutschige Schneefelder, schmale, ausgesetzte Pfade und zunehmend glitschige Felsen. Der Regen hatte eingesetzt und machte die Sache nicht gerade leichter. Ab der Mittelstation dann endlich: Fahren. Ich ignorierte die Forststraße und nahm stattdessen die Skipiste – eine steile Wiese, hin und wieder mit Pfadfragmenten durchsetzt. Ohne GPS wäre ich verloren gewesen. Die Abfahrt war wild, unberechenbar, aber genau deshalb irgendwie befriedigend.

Unten im Tal war es trocken. Der Regen blieb oben hängen. Ich gönnte mir eine Pause, blickte noch einmal zurück – 1200 Höhenmeter lagen nun wieder über mir, der Pass halb im Nebel, halb in der Erinnerung. In Mallnitz nahm ich mir ein Zimmer in einer kleinen Pension. Mein Körper brauchte Erholung. Und mein Magen etwas anderes als Riegel und trockene Semmeln. Im Wirtshaus nebenan bestellte ich mir Kärntner Kasnudeln. Besser hätte das erste richtige Essen des Tages nicht schmecken können.
Beim Abendessen erfuhr ich von einem beunruhigenden Vorfall: In Saalbach waren fünf Mountainbiker vom Blitz getroffen worden – trotz korrektem Verhalten, trotz metallfreier Zone, trotz Schutz in einer offenen Unterstandshütte auf 1900 Metern. Sie mussten per Hubschrauber geborgen werden. Ich hoffe inständig, dass sie sich gut erholen und keine bleibenden Schäden davontragen.
Ein weiteres Mal wurde mir klar: Der Respekt vor dem Gewitter ist keine Übervorsicht – er ist eine lebenswichtige Entscheidung.